Weniger Diesel – mehr Elektro? Eine deutsche Standortbestimmung.
In Deutschland, dem Erfinderland der „Weltreligion Auto“, wie der SPIEGEL einmal schrieb, hat es das Elektroauto auffallend schwer. Erwartungen sind geweckt und bislang enttäuscht worden. Länder wie Norwegen, Frankreich, die Niederlande liegen deutlich vor Deutschland beim Hochfahren der Elektromobilität. Haben sich die Koordinaten nach dem „Erdbeben“ von September zugunsten der Elektromobilität verändert? Das fragen sich viele. Und auch Prof. Dr. Eckard Helmers von der Hochschule Trier. Er leitet als Direktor am IfaS (Institut für angewandtes Stoffstrommanagement) die Abteilung für Zukunftsfähige Mobilität und wagt eine Standortbestimmung.
* * *
Hierzu muss man zunächst die wichtigsten Treiber für eine mögliche Neuausrichtung auf Elektroautos benennen. Das ist erstens die Autoindustrie selber. Beschließt sie, jetzt den „Ballast alter Technik“ (Stefan Bratzel) über Bord zu werfen, und fortan wirklich umweltfreundliche Autos an die Kunden zu bringen, so könnte sie das unverzüglich tun wie einst Toyota mit dem Prius. Die bisherigen Aufpreise von rund 10.000 Euro für ein kleines Elektroauto könnten sofort halbiert werden und die Fahrzeuge wären dann immer noch kostendeckend. Bis zum September 2015 standen die Zeichen jedoch anders. Der gerade auf der IAA verkündete Zukunftstrend war: Elektrifizierung (nur) in teuren Segmenten, und möglichst als Plug-in-Hybrid. Hier könnte und müsste ein Umdenken stattfinden. In den Märkten, in denen die Kunden nun misstrauisch geworden sind, könnte sich VW am überzeugendsten mit Elektroautos retten. Und das sind wohl die meisten Märkte außer Deutschland.
Der zweite zentrale Akteur ist der Staat. Er setzt Anreize auf verschiedenen Ebenen und bestimmt damit weitestgehend die Entscheidungen der Konsumenten. Die um fast 20 Cent pro Liter niedrigere Steuer auf Diesel verglichen mit Benzin hat seit den 1990er Jahren über sieben Millionen Deutsche zusätzlich auf ein Dieselfahrzeug umsteigen lassen. Solche Anreize des Staates bleiben beim Elektroauto bislang aus. Steuervorteile des Elektroautos sind, berücksichtig man die Zusatzeinnahmen aus der Mehrwertsteuer beim teureren Elektroauto, in Deutschland nicht vorhanden. Der Staat hat insbesondere den Diesel-PKW noch auf einer anderen Ebene subventioniert: Er hat seit rund 20 Jahren gestattet, dass Diesel-PKW höhere toxische Emissionen als Benziner haben und er hat zudem erlaubt, dass Emissionsgrenzen nur im Labor eingehalten werden müssen. Dadurch wurde der Diesel-PKW billiger als er hätte sein dürfen. Außerdem wird mit Gesundheit bezahlt. Das renommierte britische King’s College hat aktuell errechnet, dass jedes Jahr 5.900 Londoner vorzeitig sterben, weil sie erhöhten Stickoxid-Emissionen ausgesetzt sind. Etwa die Hälfte davon stammt aus dem Verkehr.
Die Karten werden gerade wieder einmal neu gemischt: In diesen Wochen und Monaten entscheidet es sich in Brüssel, ob und wann die Autoindustrie die Emissionsgrenzen auf der Straße und nicht mehr nur im Labor einzuhalten hat. Die Industrie fordert eine Vertagung bis nach 2021. Der Staat entscheidet darüber in Form von EU-Kommission und den Mitgliedsländern, und hier heißt es nicht nur pro oder contra Gesundheit der Menschen, sondern gleichzeitig indirekt für oder gegen technische Alternativen wie das Elektroauto. Müssen Diesel-PKW nun doch auch auf der Straße ihre Abgase reinigen und müssen in Zukunft auch die Partikel der Benzin-Direkteinspritzer herausgefiltert werden, dann steigen bei diesen Techniken die Kosten, was wiederum Elektromobilität fördert. Jede weitere Intervention Deutschlands bei der EU-Kommission zur Abschwächung von Auflagen für Verbrennungsmotor-Fahrzeuge, sei es bei den CO2-Emissionen oder bei toxischen Emissionen, wäre eine Intervention gegen Elektromobilität. Da kann man zuhause noch so oft vom 1-Million-Ziel bei den Elektroautos reden.
Die Gesellschaft im Zeozwei-Land
Der dritte Akteur, der über den Erfolg von Elektroautos entscheidet, ist die Gesellschaft. Oder anders formuliert, die öffentliche Meinung in Deutschland. Hierzulande gibt es seit Jahren eine auffallend reduzierte Umweltdiskussion. Im Zuge von #Dieselgate etwa wurden kaum einmal die gesundheitlichen Folgen thematisiert, sondern eigentlich nur die wirtschaftlichen.
Wir sind zum „Zeozwei-Land“ geworden. Dabei ist der CO2-Fußabruck in der Ökobilanzierung nur eine von mindestens 18 Umweltkategorien. Saubere Luft mit wenig Ozon, Stickoxiden und Feinstaub ist genauso lebenswichtig wie das Klima. Der Dieselauto-Boom wurde vor rund 20 Jahren in der EU initiiert, um CO2 zu sparen. In diesem Zusammenhang verbreiteten sich Mythen. Der erste Diesel-Mythos war, man habe die Stickoxidemissionen von Diesel-PKW mit Hilfe der Euro-Emissionsgrenzen kontinuierlich reduziert. In Wirklichkeit liegen sie heute in etwa auf dem gleichen Niveau wie vor 20 Jahren. Der zweite Mythos ist, nur mit dem Diesel könne man die CO2-Emissionen neu zugelassener Autos reduzieren. Dabei liegen neu zugelassene Benziner und Diesel heute in den CO2-Emissionen fast gleichauf. In Japan, wo man Diesel-PKW aus Umweltgründen fast völlig verbannt hat, wurden die CO2-Emissionen wesentlich schneller reduziert. (siehe Abbildung) Doch die eigentliche Tragik liegt woanders und wird bislang in Europa ignoriert: Weil Ruß nicht im Kyoto-Protokoll reguliert wird, berücksichtigt man offiziell die atmosphärische Wirkung dieser besonderen Diesel-Emissionen auf das Klima nicht. Bei einem Diesel-PKW ohne Filter müssen jedoch bis zu rund 80 g CO2-Äquivalente pro km aus der Rußwirkung hinzugerechnet werden. Etwa die Hälfte der 45 Millionen zusätzlichen Diesel-PKW in den letzten 20 Jahren kam ohne Filter auf die Straßen Europas. Der Dieselboom hat deshalb die Atmosphäre aller Wahrscheinlichkeit nach aufgeheizt, und das ist angesichts der gesundheitlichen Zusatzbelastungen eine Tragik.
Nun gibt es ja (vielleicht bald) den „Clean Diesel“ – das ist noch so ein Diesel-Mythos. Aktuelle Messungen zeigen: In Deutschland funktioniert bei jedem 10. Dieseltaxi der Partikelfilter nicht oder ist ausgebaut. In Frankreich wurden kürzlich 168 Diesel per Zufall von der Straße genommen und untersucht: Drei Viertel davon hatten einen oder bis zu vier Motordefekte. Das fünfstufige Chemielabor eines „Clean Diesel“ zur Abgasreinigung kann so nicht mehr funktionieren. Ein Großteil der gebrauchten deutschen Autos wandert nach Ost- und Südosteuropa. Autos in Litauen sind durchschnittlich 14 Jahre alt. Glaubt jemand im Ernst, dort würden die „Clean Diesel“ bei km 300.000 noch mit Partikelfilter fahren? Der dann wieder emittierte Ruß heizt die Atmosphäre der Welt und belastet die Gesundheit der Menschen vor Ort. Es wird dringend Zeit, zu einer wirklich sauberen Technik zu wechseln: dem Elektroauto. Die Emissionen von Kraftwerken werden nämlich gewöhnlich nicht manipuliert.
Umparken im Kopf
Die kritische deutsche Diskussion der Umwelteffizienz von Elektroautos wird vor dem Hintergrund der Diesel-Mythen erst verständlich. So wird beim Vergleich von Elektroautos mit Verbrennungsmotor-PKW immer noch gerne die Bereitstellungskette von Benzin und Diesel, die rund 20 Prozent der Energie frisst, vergessen. Auch die CO2-Beratungsindustrie kritisierte oft das Elektroauto. Hohe Stromverbräuche im (fürs Elektroauto nicht sinnvollen) Autobahnbetrieb wurden dabei gerne auf reine Kohlestromproduktion bezogen und mit Fabelwerten von Diesel-PKW verglichen, so dass das Elektroauto schlecht aussah. Das Elektroauto wurde für sein hohes Gewicht kritisiert – dabei ist die beständige Gewichtszunahme ein Grundproblem einer unterregulierten Autoindustrie. Sogar die Geräuscharmut des Elektroautos im Stadtverkehr wurde kritisiert – dabei halten Stadtbewohner den Lärm für eines der gravierendsten Umweltprobleme.
Führt die Enttarnung des „Clean Diesel“ nun zu einem Schub für das Elektroauto? Es könnte ein Anfang sein, dessen einzigartige Vorteile (nahezu Nullemissionen im Betrieb) endlich wertzuschätzen als das, was dringend gebraucht wird. Ein Verbrennungsmotor-PKW wird mit jedem Jahr seines Lebens schmutziger. Ein Elektroauto hat heute schon – für jedermann erkennbare – Umweltvorteile und wird mit jedem zukünftigen Jahr sauberer – dank erneuerbarer Stromerzeugung. Vor einem elektrischen Neuanfang braucht es also das vielzitierte „Umparken im Kopf“. Weg mit den Mythen, dem technischen Ballast des Ölzeitalters. Jede etablierte Industrie hält solange wie möglich an alter Technik fest. Die Regierung traut sich nicht. Übrig bleibt die Gesellschaft, die das Neue wagen und fordern muss.
Über den Autor
Dr. Eckard Helmers ist Professor an der Hochschule Trier seit 1998. Er unterrichtet chemische Fächer mit dem Schwerpunkt Umweltchemie. Als Umweltanalytiker forscht er über die analytische Methodik und die Bewertung von Spurenstoffdaten in Toxikologie, Atmosphäre, Wasser, Boden, Luft und weiteren Matrizes und hat rund 40 wissenschaftliche Aufsätze veröffentlicht. Seit 25 Jahren beschäftigt er sich mit Verkehrsemissionen. Als Direktor am IfaS (Institut für angewandtes Stoffstrommanagement) leitet er die Abteilung für Zukunftsfähige Mobilität mit und hat den Umbau von Verbrennungsmotor-Fahrzeugen zu Elektroautos samt begleitender Ökobilanz-Forschung initiiert. Diese sog. „eConversion“ ermöglicht minimalen Ressourcenverbrauch und geringste Emissionen der Mobilität mit dem Auto.