Gedanken nach Paris: Reichweite ist alles. Oder?
Wer hat die größte Reichweite? Das ist die Frage aller Fragen in den Messehallen von Paris. Die Elektromobilität wird dort sichtbar wie nie zuvor: „300 km“ prangt auf den Türen von BMW i3 und Volkswagen E-Golf, „400 km“ leuchtet es dem Messe-Besucher vom Renault Zoe entgegen – und mit gar „500 Kilometern“ weiß der nagelneue Opel Ampera-e alle zu übertreffen.
Damit schlägt ausgerechnet ein Neuling die zweite Generation jener Fahrzeuge, die sich in den vergangenen Jahren um die Elektromobilität verdient gemacht haben. Opel-Chef Karl-Thomas Neumann ist sich denn auch sicher: „Der Ampera-e ist ein großer Schritt, auch, weil er durch seine große Reichweite den Menschen die Angst vor Elektroautos nimmt.“ Und Guillaume Berthier, Verkaufsleiter für E-Autos bei Renault, tönt selbstbewusst: „Vergessen Sie das Thema Reichweite. Es ist keines mehr.“ Alles in Butter also?
Es gibt auch kritische Zwischentöne in Paris: Im Hintergrundgespräch mit BMW kommt die Frage auf, ob es mit Blick auf ökologische Aspekte wirklich sinnvoll sei, mehr Batterie in einem E-Auto zu verbauen, als der Kunde im Alltag wirklich brauche. Und tatsächlich muss man sich diese Frage mit Blick auf den Autosalon stellen. Einerseits. Andererseits zeigt sich schon bei meinem BMW i3 der zweiten Generation, dass die größere Batterie einen merklichen Komfort-Gewinn im Alltag mit sich bringt. Ich fahre entspannter los, komme ohne besorgte Blicke auf die Reichweiten-Anzeige an, kann auf vielen Strecken in Berlin-Brandenburg jetzt ohne Zwischenladung hin- und auch wieder zurückfahren. Und ich lade meinen i3 nur noch ein- statt zweimal pro Woche an einer öffentlichen Ladesäule in Berlin wieder auf. Allein die wegfallenden Wege empfinde ich als Gewinn. Zudem gehe ich jetzt mit dem Elektroauto auch Strecken an, für die ich sonst stets einen Verbrenner angemietet habe oder auf die Bahn umgestiegen bin. Ziele wie Hannover, Hamburg oder Leipzig rücken – einen Schnellladestopp unterwegs vorausgesetzt – plötzlich in den Reichweiten-Horizont, ganz ohne Sorgenfalten auf der Stirn.
Und doch bleibt die Frage: Wie viele Kilowattstunden müssen es im E-Auto wirklich sein? Und ab wann sollte ein gut ausgebautes Schnellladenetz dem Wettkampf der Reichweiten entgegenwirken? Daimler beantwortet diese Frage in Paris auf seine Weise: Die drei Elektro-Versionen des neuen Smart (Zweisitzer, Viersitzer, Cabrio) haben keine größere Batterie bekommen. 160 Kilometer müssen reichen. Auf dem Messestand spreche ich mit vielen Daimler-Leuten. Alle sehen im Smart das Stadtauto. Und das soll es auch bleiben. Mehr Reichweite bräuchte es also nicht, da seine Besitzer das E-Auto ohnehin jede Nacht aufladen würden. Größere Batterien bleiben demnach den kommenden Elektroautos der neuen Mercedes-Submarke EQ vorbehalten. In diesem Fall macht die Konzern-interne Aufteilung sogar Sinn: Hier der elektrische Stadtflitzer für das tägliche Pendeln, Einkaufen oder Herumkutschieren der Kinder. Dort das größere Elektro-Modell für mittlere und lange Strecken. Im besten Fall, so denke ich mir, könnte so der gesamte Fahrzeugbestand eines typischen Schwaben-Haushalts aus Erst- und Zweitwagen elektrifiziert werden. Man wird ja wohl noch träumen dürfen in Paris…
Am Ende ist es ja sogar wünschenswert, dass ein Kunde bei seiner Marke zwischen verschiedenen Reichweiten wählen kann, um sich das Elektroauto auf seine persönlichen Anforderungen maßschneidern zu können. Schließlich ist jede kWh bares Geld wert. Und die Reichweiten-Frage stellt sich in der Kompaktklasse ab 250 Alltagskilometern wirklich kaum mehr. Insofern geben BMW i3, VW e-Golf, Renault Zoe und der neue Reichweiten-Primus Opel Ampera-e die richtige Antwort auf die Frage der Stunde. Allerdings spielen die Fahrzeug-Hersteller damit den Ball auch in die andere Hälfte des Spielfeldes zurück: Denn jetzt muss die Infrastruktur nachziehen! Das Fehlen von Schnellladestationen entlang mancher Autobahn-Routen (wie etwa zwischen Berlin und Hamburg) macht sich jetzt ganz besonders negativ bemerkbar. Bedarfsgerechter Ausbau heißt in dem Fall: Zügig loslegen bitte! Dann reicht’s auch mit der Reichweite – und wir können uns ausuferndes Wettrüsten vielleicht sparen.
Text und Fotos: Peter Schwierz, Chefredakteur electrive.net
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