Paris: Das von Bollorés Autolib hinterlassene Erbe
Sommer 2018 – der sieben Jahre lang in Paris etablierte E-Carsharing-Service Autolib der Bolloré-Gruppe wird nach Querelen mit der Stadt eingestellt. Schlagartig verlieren 6.200 Ladesäulen und rund 4.000 City-Stromer ihren Daseinszweck. Ein Erbe, mit dem keiner richtig umzugehen weiß.
Während andere Städte Ladestationen im Akkord aufbauen, hat Paris daran eigentlich keinen Mangel. Eigentlich, denn wo man hinschaut, sind die ehemaligen Autolib-Standorte stillgelegt, verwaist, „hors service“. Aber nicht alle: Vier Monate, nachdem dem Elektro-Sharing von Bolloré vergangenes Jahr der Stecker gezogen worden war, reaktivierte die Stadt im Dezember als explizit „provisorische“ Maßnahme 1.000 der 6.200 Ladesäulen.
Der von vielen Parisern mit Unverständnis quittierte monatelange Stillstand hatte sich zuvor derart in die Länge gezogen, weil die mit der Wiedereröffnung verbundenen Probleme vielschichtig sind. Da wäre zunächst die Tatsache, dass Bolloré seine Softwarelösung zur Verwaltung und Überwachung des Netzes nicht herausrückt, was dazu geführt hat, dass die Stadt alle „intelligenten Teile“ an den Säulen entfernen musste. Die Ladegeräte konnten nach dieser „Operation“ zwar reaktiviert werden, die Stadt verfügt aber über kein Analyseinstrument, um die Funktionalität des Netzes aus der Distanz zu überwachen. Das schürt freilich die Angst vor größeren Problemen bei der Wartung und Verfügbarkeit des Netzwerks.
Auch ein modernes Bezahlmodell ist ohne entsprechende Vernetzung kaum implementierbar, was dazu geführt hat, dass die Stadt fürs Erste einen altmodischen Weg einschlägt: Sie stellt Jahresabos aus, die mit einer Karte an der Frontscheibe kenntlich gemacht werden und Privatpersonen 120 Euro sowie Gewerbetreibende (Taxis, Carsharing- und Ride-Hailing-Dienste, etc.) 600 Euro im Jahr kosten. Letztere können nur Anträge für reine E-Autos stellen, Plug-in-Hybride fallen durchs Raster. Bei den Privaten gilt das Angebot nur für Einwohner der Stadt, Bewohner aus der Umgebung können höchstens einen Sonderantrag stellen. Auch Ladekarten-Inhaber von Drittanbietern wie ChargeMap oder NewMotion schauen daher noch immer in die Röhre.
Säulen mit gerade einmal 3,7 kW Ladeleistung
Dann ist das vor über sieben Jahren installierte Netz absolut veraltet: Die Terminals liefern nur 3,7 kW Ladeleistung. Die wiedereröffneten Säulen verfügen einzig über einen Typ-3-Stecker, was Besitzer der neuen Generation von E-Autos mit Typ-2 dazu zwingt, sich einen Adapter zuzulegen. Und dann wäre da noch der prophezeite Revierkampf, wenn private E-Auto-Fahrer auf die „Lade-Konkurrenz“ von Carsharing-Autos treffen, die die Straßen von Paris seit dem Launch von Moo’vin, free2move und Car2Go zu Hunderten bevölkern. In der Tat ermutigt beispielsweise Car2Go seine Kunden, die Flottenfahrzeuge bei niedrigem Ladestand an eine Autolib-Station anzuschließen. Im Gegenzug für diesen „Gefallen“ gewährt der deutsche Carsharing-Anbieter ein Guthaben für die nächste Fahrt.
Wie also weiter verfahren mit dem Ladenetz-Überbleibsel des einstigen Vorzeigeprojekts? Ein Startup namens Electric 55 Charging (zuvor „Plus de Bornes“) hat sich kürzlich mit dem Angebot ins Gespräch gebracht, die gesamte veraltete Autolib-Infrastruktur durch ein simples Prozedere modernisieren und mit Vernetzungstools ausstatten zu können. Das Unternehmen gibt an, ein Kit entwickelt zu haben, mit dem „ein geschulter Techniker in der Lage ist, die Hard- und Software jedes Terminals in weniger als einer Stunde zu aktualisieren“ – und zwar derart, dass die Säulen ohne Baustelle und neue elektrische Anschlüsse mit einer Typ-2-Steckdose mit bis zu 22 kW aufgerüstet werden. Bei der Gelegenheit bietet das Startup an, auch gleich eine smarte Steuerung und „alle gängigen Tools“ zu integrieren. Als Zielgruppe des Angebots nennt es explizit Carsharing-Betreiber, die sich bei der Stadt Paris im Rahmen einer laufenden Ausschreibung die Berechtigung zur Nutzung öffentlicher Räume sichern wollen.
Inwiefern das Angebot auf offene Ohren stößt, ist bisher unklar. Fakt ist, die zum Großteil weiterhin stillgelegten Ladestandorte werden weder jünger, noch ist mit einer Wunder-Reaktivierung zu rechnen, die eine Beilegung des Streits zwischen der Bolloré-Gruppe und dem Syndicat Autolib’ Vélib’ Métropole (SAVM) voraussetzen würde, jenem Gremium, das das Carsharing für rund 100 Gemeinden in der Region Paris verwaltet hat. Danach sieht es aber absolut nicht aus: Beide Parteien streiten weiter über eine von Bolloré geforderte Entschädigung von 250 Millionen Euro zur Deckung von Betriebsverlusten und Kündigungskosten. Ein Ende des Ladenetz-Chaos‘ an der Seine ist also nicht abzusehen.
Das BlueCar avanciert zum Verkaufs-Schnäppchen
Autolib, das waren unterdessen nicht nur besagte annähernd 6.200 Ladesäulen im Großraum Paris, sondern vor allem 4.000 Fahrzeuge des Typs Bolloré BlueCar. Nach sieben Jahren Dauernutzung bot ihr teils desolater Zustand eine erweiterte Angriffsfläche für den Konflikt zwischen Anbieter und den Städten. Nach dem Aus im Sommer hieß es, dass ungefähr die Hälfte der Stromer verschrottet und die andere Hälfte entweder zu Bollorés weiteren E-Carsharing-Angeboten in Lyon, Turin und Bordeaux wechseln oder an private Unternehmen verkauft würde.
In der Tat witterten findige Händler daraufhin ein gutes Geschäft. Ein Betrieb namens Caravec aus Romorantin deckte sich beispielsweise mit einem ganzen Schwung der E-Kleinwagen ein und veräußerte im November 100 Exemplare bei einem Flash-Verkauf innerhalb eines Vormittags. Für 3.700 Euro erhielten Schnäppchenjäger ein wenn überhaupt wenig überholtes BlueCar mit einer durchschnittlichen Laufleistung von rund 100.000 Kilometern. Überzeugend war dabei wahrscheinlich eine sechsmonatige Garantie, die der Werkstatt- und Händlerbetrieb gegen knapp 200 Euro auch auf zwei Jahre verlängerte.
Der bretonische Gebrauchtwagenhändler Autopuzz, zuvor bereits Ersatzteillieferant für das BlueCar, stellte nicht minder Geschäftssinn unter Beweis. Er erwarb 500 Exemplare, die in zwei Verkaufsaktionen restlos weggingen. Anders als die Romorantiner Werkstatt investierten die Bretonen in die Aufwertung der Autos und verkauften die BlueCar-Flotte für einen Einheitspreis von 4.990 Euro pro Stück. Findige Kunden, die dazu noch öffentliche Fördertöpfe anzapften, kamen so zu einem Mega-Schnapp: Einige Leute sollen dank der Akkumulation von Boni auf einen Preis von 990 Euro gekommen sein, meldeten Medien nach einer der Verkaufsaktionen im Februar.
Auch Kommunen haben die Gelegenheit beim Schopfe ergriffen. Beispiel: der Rat des Departements Mayenne in Zentralfrankreich. 53 gebrauchte Exemplare des BlueCar sind dort kürzlich in „Maycar“ umbenannt worden und gesellen sich nun zu den bereits vorhandenen E-Autos der interkommunalen Flotte. So erfüllt zumindest ein Teil der E-Kleinwagen weiter seinen Zweck. Auch wenn die zumindest anfangs glorreichen Zeiten als Exemplar der einstigen Pariser Pionier-Flotte unwiederbringlich vorbei sind.
paris.fr, automobile-propre.com, automobile-propre.com (alle Ladenetz), avem.fr, breezcar.com (beide Electric 55 Charging), 20minutes.fr, 20minutes.fr, automobile-propre.com, lecourrierdelamayenne.fr (alle Wiederverwendung BlueCar)
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