Elektroautos: Lange Lieferzeit, kleine Stückzahl. Absicht?
Lieferzeiten von 12 Monaten und mehr wurden zuletzt bei Kia harsch kritisiert. Die Kritik der Käufer: Angeblich halten die Hersteller ihre Elektroautos zurück, um die CO2-Flottenemissionen zu manipulieren. Christoph M. Schwarzer hat sich auf Spurensuche begeben und mit Experten gesprochen. Hier ist sein Ergebnis.
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Die traditionelle Autoindustrie aus Deutschland, Japan und Südkorea ist sich einig: Batterie-elektrische Autos werden nur verkauft, um die gesetzlichen CO2-Vorgaben in den jeweiligen Märkten zu erfüllen. Wer genug Nullemissionsfahrzeuge auf die Straße bringt, kann weiterhin ungestraft fette SUVs mit Verbrennungsmotor im Portfolio haben. Eigentlich wollen die Volkswagen AG, die Toyota Motor Corporation und die Hyundai-Kia Motors Corporation gar keine Elektroautos bauen – das will allein Tesla. Diese These erscheint angesichts langer Lieferzeiten, beschränkter Stückzahlen und dem permanenten Aufschub von Produktionsstarts plausibel. electrive.net hat recherchiert und gefragt: Könnte es auch anders sein?
Die Ausgangssituation ist sattsam bekannt: Kia zum Beispiel gibt die Lieferzeit eines e-Niro auf Anfrage von electrive.net mit „mindestens zwölf Monaten“ an. Beim Sauberwürfel Soul sind es mehr als neun Monate, obwohl der Autotyp erst seit 8. April bestellbar ist. Eine Begrenzung würde sich durch „Engpässe in der Batterieproduktion“ ergeben und man arbeite „mit Hochdruck daran, die Kapazitäten auszuweiten“, heißt es von Kia. Eine unerwartet hohe Nachfrage ist übrigens nicht nur bei Batterie-elektrischen Autos feststellbar. Der Suzuki Jimny zum Beispiel, ein ernsthafter Mini-Geländewagen mit Designparallelen zum Mercedes G-Modell, lässt wegen hoher Beliebtheit auch mehr als ein Jahr auf sich warten.
„Es ist durchaus vorstellbar, dass die Hersteller den Nachfrageboom nach Elektroautos unterschätzt haben“, sagt dazu Professor Stefan Bratzel vom Center Automotive Management (CAM) in Bergisch-Gladbach. „Industrielle Prozesse brauchen eine gewisse Zeit“, erklärt Bratzel. Die Produktion müsse angepasst werden. Das gelte sowohl für die Batteriezellen als auch fürs Packaging. „Ich bin darum sehr vorsichtig, der traditionellen Autoindustrie eine künstliche Verknappung zu unterstellen.“
Toyota: Über zehn Jahre bis zur ersten Hybrid-Million
Wie eine typische Hochlaufkurve aussieht, lässt sich bei den Toyota-Hybridmodellen ablesen. Im ersten vollen Verkaufsjahr 1998 wurden global 17.656 Exemplare verkauft. 2003 waren es 53.292 Pkw mit Hybrid Synergy Drive und 2008 384.854 Autos. Nochmals fünf Jahre später war die jährliche Million geknackt, und es liefen 1.139.549 Toyota Hybride vom Band – wir betrachten eine grundsätzlich langfristige Entwicklung.
Teil des Hochlaufs sind die Skaleneffekte, also die Kostenreduktion über größere Stückzahlen. Auch hier wächst das Gras nicht schneller, wenn man dran zieht. Die Logik der Industrie ist im Guten wie im Schlechten eingefahren und erprobt.
Schwieriger zu verstehen ist die Relevanz von Batterie-elektrischen Autos bei der Berechnung der CO2-Flottenemissionen. Jedem in der EU neu zugelassenen Pkw ist ein bestimmter CO2-Wert in Gramm pro Kilometer zugeordnet. Das gesetzlich vorgegebene Ziel ist, dass der Durchschnitt aller Neuwagen eines Herstellers im Jahr 2021 bei maximal 95 g CO/km liegt. Die angedrohten Zahlungen sind hoch: Für jedes Gramm über dem Limit ist für jedes Auto eine Strafe von 95 Euro fällig. Bei Massenherstellern kommen also leicht hunderte Millionen Euro zusammen. Es ist erlaubt und erwünscht, dass sich Hersteller gemeinsam bilanzieren. Das Pooling belohnt jene Autoproduzenten, die besonders niedrige CO2-Emissionen haben, weil sie diesen Vorteil verkaufen können. Siehe Tesla und FCA.
Batterie-elektrische Autos fließen mit null Gramm ein, weil sie auf dem Prüfstand emissionsfrei sind. Zusätzlich gewährt die EU sogenannte Supercredits: 2020 können Pkw, die weniger als 50 g CO2/km ausstoßen (also auch Plug-in-Hybride) doppelt angerechnet werden. 2021 beträgt dieser Joker-Faktor noch 1,67 und 2022 1,33. Erst ab 2023 geht ein Batterie-elektrisches Auto einfach mit null Gramm ein.
Aber es gibt eine Deckelung: Die Summe der Supercredits wird mit maximal 7,5 Gramm bewertet. Wenn ein Hersteller also 2020 einen Effekt von vier g CO2/km hat und 2021 zwei g CO2/km, bleiben für 2022 nur noch 1,5 Gramm Nachlass. Nicht viel, wenn man bedenkt, dass im letzten Jahr schon zwölf Prozent aller neuen Kias in Deutschland einen Ladestecker hatten.
Zusätzlich muss berücksichtigt werden, dass nach 2021 die Berechnungsgrundlage doppelt gewechselt wird: Zum einen wird vom veralteten NEFZ auf WLTP umgestellt. Zum anderen müssen die Hersteller bis 2030 kein absolutes, sondern ein relatives CO2-Reduktionsziel von 37,5 Prozent nachweisen, um Strafzahlungen zu entgehen.
Jan Dornoff, Fachmann für die CO2-Gesetzgebung beim International Council on Clean Transportation (ICCT) sieht „in Anbetracht der aktuell stagnierenden Flottenemissionswerte und der bei Ziel-Nichterreichung hohen Strafzahlungen wenige oder keine Vorteile für die Hersteller, wenn sie BEVs verspätet auf den Markt bringen.“ Und Dornoff ergänzt: „Mein Eindruck ist eher, dass die Autoindustrie auf diesen Technologiewechsel nicht ausreichend vorbereitet ist und deshalb die Produktion der Nachfrage nicht gerecht werden kann.“
Reform der Kfz-Besteuerung notwendig
Die Einschätzung von Dr. Peter Mock, Europa-Geschäftsführer des ICCT, ist ähnlich. Er vermutet, dass die Industrie – siehe Volkswagen – die Botschaft von Kunden und Gesetzgeber verstanden hat und sich die Rahmenbedingungen in den nächsten drei Jahren stark ändern werden. Nach der aktuellen Knappheit würden, so Mock, „die Hersteller ein ausreichendes Portfolio attraktiver Elektrofahrzeuge anbieten, und sie werden wegen der CO2-Reduktionsziele für 2025 und 2030 auch einen großen Anreiz haben, diese zu vermarkten.“ In der Folge bestehe allerdings die Gefahr, dass nachdem die Early Adopters versorgt sind, die Masse der Käufer noch zögerlich ist. „Aus meiner Sicht sollte darum dringend an einer Reform der Kfz-Steuer gearbeitet werden, welche Fahrzeuge mit niedrigeren CO2-Emissionen bevorzugt und solche mit hohen CO2-Werten stärker belastet. Das ist sowohl im Interesse der Hersteller als auch des Finanzministeriums“, erklärt Peter Mock in Anlehnung an das französische Bonus-Malus-System weiter.
So einleuchtend es auf den ersten Blick sein mag, der konventionellen Autoindustrie eine gezielte Verzögerungstaktik vorzuwerfen – diese Erklärung ist zu eindimensional. Beispiel Kia: Die große Nachfrage ist der Nachweis für attraktive und bezahlbare Produkte, die von den Wettbewerbern nicht angeboten werden. Aus einer Unterschätzung dieses weltweiten Trends einen Beweis für Inaktivität abzuleiten, ist verdreht.
Es stimmt, dass Batterie-elektrische Autos und Plug-in-Hybride notwendig sind, um die CO2-Flottengrenzwerte einzuhalten und Strafzahlungen zu entgehen. Genau das ist die Absicht dieser gesetzlichen Vorgabe. Aus Expertensicht ist es aber nicht lohnenswert, die Zahl der Elektroautos künstlich zu limitieren.
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