Verordneter Missklang: Das Elektroauto-Fahrgeräusch AVAS
Neu homologierte Elektroautos müssen ab Juli bei niedrigen Geschwindigkeiten künstliche Geräusche machen, was Sound Designern ein neues Arbeitsfeld verschafft. Doch der verordnete Lärm ist ungerecht, wie Christoph M. Schwarzer recherchiert hat. Denn neue Verbrennungsmotoren sind ähnlich leise unterwegs.
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Eine große Chance, den rollenden Verkehr menschenfreundlicher zu gestalten, ist vertan worden: Elektroautos bekommen ein Acoustic Vehicle Alerting System (AVAS), also ein künstliches Fahrgeräusch. Für Autotypen, die ab dem 1. Juli typgeprüft werden („Homologation“), ist das AVAS verpflichtend. Zwei Jahre später, am 1. Juli 2021, folgt der Stichtag für sämtliche neu zugelassenen elektrifizierten Pkw. Das schreiben die Regularien von EU und UNECE vor. Vielleicht werden BMW i3, Tesla Model 3 und Volkswagen e-Golf aus den 10er Jahren dann begehrte Klassiker – weil sie schweigsam sind.
Anders als heute wird eine Abschaltung des Außensounds in Zukunft nicht erlaubt sein. In der EU und in China gilt eine Grenzgeschwindigkeit von 20 km/h, in den USA sind es 30 km/h (18,6 mph), bis zu der das AVAS in Betrieb sein muss. Und unstrittig ist: Bei langsamer Fahrt können Elektroautos überhört werden. Eine Erfahrung, die Sie als Leser von electrive.net und wir in der Redaktion selbst gemacht haben. In Spielstraßen, vor der Schule, am Zebrastreifen. Ebenfalls klar ist, dass Menschen mit Sehbehinderung und Blinde geschützt werden müssen, weil sie sich aufs Gehör verlassen.
Wenn AVAS sein müssen, dann bitte passend zur Marke
Die Hersteller haben aus der gesetzlichen Notwendigkeit eine Wissenschaft gemacht. So, wie eine zufallende Autotür oder der Verbrennungsmotor gut klingen sollen, ist das auch bei AVAS das Ziel. Das Geräusch muss zum Image der Marke passen – eine Vorstellung, die musikalischen Menschen leichtfällt, für andere aber abstrakt wirkt. Audi Sound Designer Rudolf Halbmeir zum Beispiel ließ sich von Science-Fiction-Filmen inspirieren: „Wenn man Musik oder Sound komponiert, muss man das machen, wovon man selbst überzeugt ist. Sobald man sich auf Kompromisse einlässt, endet man im akustischen Einheitsbrei.“ Audi charakterisiert den Außensound als „breitbandig, technisch hochwertig und definiert“. Und die Wettbewerber sind wahrscheinlich ebenso ehrgeizig.
Es ist verständlich, dass die Autoindustrie die internationalen Vorgaben so positiv wie möglich erfüllen will. Außerdem ist offensichtlich, dass ein Imageschaden durch eine tatsächlich erhöhte Unfallzahl durch Elektroautos katastrophal wäre. Und trotzdem bleiben Zweifel, ob die AVAS in der beschlossenen Form sinnvoll und gerecht sind.
Das Problem der (angeblich) zu leisen Autos besteht, das haben etliche Tests ergeben, im niedrigsten Geschwindigkeitsbereich: Irgendwo oberhalb von 20 bis 30 km/h werden die Abrollgeräusche der Reifen dominant. Nur darunter, so die allgemeine Annahme, sind Elektroautos leiser und darum schlechter wahrnehmbar als Pkw mit Verbrennungsmotor.
Genau hier widerspricht das Center Automotive Research (CAR) der Universität Duisburg-Essen. Professor Ferdinand Dudenhöffer, Leiter des CAR, hatte schon früh mehrere Versuchsreihen durchgeführt und deren Ergebnisse veröffentlicht: Bei der größten Messreihe im Jahr 2011 gab es 240 Teilnehmer im Alter von fünf bis 95 Jahren. 14 Prozent waren schwerhörig, und 35 Probanden waren sehbehindert oder blind. Als Testfahrzeuge kamen sowohl Batterie-elektrische Autos als auch welche mit Benzin- oder Dieselmotoren zum Einsatz.
Moderne Ottomotoren und Mildhybride sind gleichfalls kaum wahrnehmbar
Signifikante Unterschiede im Lärmpegel waren nur bei Vollgas- und Hochdrehzahlfahrten feststellbar. In anderen Fahrsituationen dagegen gab es einen weitgehenden Gleichstand. Das galt auch bei den subjektiven Messergebnissen: Bei den abgefragten Kriterien „leise, schwach, leichtgängig, dumpf, gewöhnlich, gedämpft, weich und tief“ waren die Einschätzungen der Probanden zwischen einem Elektroauto und einem baugleichen Fahrzeug mit Verbrennungsmotor nahezu deckungsgleich.
„Die Messungen zeigen, dass es wenig Sinn macht, Elektroautos mit künstlichen Geräuschen auszustatten und neue Benziner nicht“, fasst Dudenhöffer zusammen. „Wenn schon, müssten beide Fahrzeugkategorien mit per Software erzeugtem Lärm verändert werden. Die bisherigen Beobachtungen im Straßenverkehr haben aber kein signifikant gestiegenes Unfallverhalten bei modernen Benzinern gezeigt.“ Wenn man konsequent wäre, so heißt es im Fazit der Studie, müssten also sämtliche Fahrzeuge mit AVAS ausgerüstet sein: „An dieses Szenario wagt sich aber hoffentlich kein Politiker. Wir sollten die Ruhe genießen und keine Angst vor zusätzlicher vermeintlicher Unsicherheit haben.“
Inzwischen sind einige Jahre vergangen, und Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor sind noch leiser geworden. Hierbei spielen auch die erweiterten Start-Stopp-Systeme sowie Mildhybride eine wichtige Rolle: So schalten Neufahrzeuge den Verbrennungsmotor im Schiebebetrieb teilweise bei 20 und mehr km/h ab und sind faktisch genauso ruhig wie Elektroautos. Lediglich beim Beschleunigen sind sie wieder auf den Benzin- oder Dieselmotor angewiesen.
Automatische Notbremssysteme als zusätzliche Unfallverhinderer
Die gesetzliche Vorgabe fürs AVAS bezieht sich aber nur auf Pkw, die rein „elektrisch beschleunigen“ können. Es sind also zum Beispiel auch die leistungsverzweigten Vollhybride des Toyota-Konzerns davon betroffen.
Diese Faktenabwägungen aber sind Makulatur, weil die Einführung der AVAS beschlossene Sache ist. Zwar ist kein Gesetz unveränderlich – dennoch werden die Anwohner in Stadt und Land auf absehbare Zeit mit unterschiedlich komponierten Sounds leben müssen.
Es bleibt die Hoffnung, dass die Autohersteller lediglich die Mindestlautstärke programmieren werden. Diese ist nicht pauschal festgelegt, sondern richtet sich nach dem erzeugten Frequenzband. Im Durchschnitt sollen es bei 10 km/h 56 Dezibel und bei 20 km/h 50 Dezibel sein.
Eine Alternative zu den AVAS könnten übrigens automatische Notbremssysteme sein. Diese sind in praktisch jedem Neuwagen eingebaut, sie werden jedes Jahr besser, und sie reagieren auch dann, wenn der Fahrer durch das Smartphone oder der Fußgänger durch die Musik in seinen Kopfhörern abgelenkt ist.
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