Nio ES8 Fahrbericht: Mit dem China-Stromer über die Alpen
Noch ist nicht entschieden, ob und wann Nio den ES8 auch in Deutschland in den Verkauf bringt. Einige Autos für Presse-Testfahrten stehen immerhin schon bereit. Dirk Kunde hat mit dem ES8 die Alpen überquert – und dabei viel über die Verarbeitung des SUV, moderne Sprachhürden und die Reichweite gelernt. Die Testfahrt zeigt, wie nah die Chinesen den europäischen Oberklasse-Modellen bereits sind – und wo sie noch Rückstand haben.
* * *
Mit 250 km Reichweite verlasse ich Innsbruck und nehme die A13 in Richtung Brennerpass. Die Batterie im Nio ES8 fasst 63 kWh (70 kWh Brutto) für 355 km Reichweite (nach NEFZ). Doch ich konnte im Hotel nur an der Schukosteckdose laden. Ein Adapter für den Drehstromanschluss war beim Juice-Booster nicht dabei.
Auf der österreichischen Autobahn gilt aus Luftschutzgründen Tempo 100. Elektroautos dürfen auf etlichen Abschnitten 130 km/h fahren. Allerdings gilt das nur für heimische E-Autos mit grünem Nummernschild. Der Testwagen ist aber in Deutschland mit einem E-Kennzeichen zugelassen. Mein Hotel-Wirt, der einen elektrischen Renault Kangoo fährt, fasst sich an den Kopf als er mir die Regelung erklärt. „Sobald der erste ausländische E-Auto-Fahrer ein Ticket bekommt, wird dagegen geklagt. Zu recht“, meint er.
Also stelle ich den Tempomaten auf 102 km/h, was mir das Head-up-Display über der Fahrbahn schwebend anzeigt. Draußen sind es 20 Grad, doch die tiefhängenden Wolken lassen ihre feuchte Last auf mich niederprasseln. Die Klimaanlage und die Bluetooth-Musikwiedergabe sind aktiv. So schlängle ich mich die verbleibenden 806 Höhenmeter zum Brennerpass auf 1.370 Meter hinauf. Die beiden Motoren mit jeweils 240 kW und 840 Nm sind am Berg und vor allem beim Überholen starke Helfer.
26 kWh auf 100 Kilometer
Um möglichst weit zu kommen, wähle ich den Eco-Modus. Ich habe kein festes Ziel. So weit wie möglich in den Süden, lautet meine Vorgabe. Ich möchte die Regenwolken hinter mir lassen. In Kurtinig an der Weinstraße verlässt mich der Mut. Zum einen zeigt die Plugsurfing-App von hier bis Verona keine Ladesäule in Autobahnnähe an. Zum anderen ist meine Reichweiten-Anzeige auf 65 km gesunken. Gefahren bin ich 150 km. Somit sollte ich noch 100 km haben. Die fehlenden 35 km hat der Berg gefressen.
Damit liegt mein Reichweitenverlust 23 Prozent über den tatsächlich gefahrenen Kilometern. Auf dem gestrigen Teilstück von München nach Innsbruck waren es 36 Prozent. Die Strecke ist zwar flacher, doch dort darf man schneller fahren. Um es gleich vorweg zu nehmen, bei der Kalkulation für meine zweitägige Testfahrt komme ich auf einen Verbrauch von rund 30 kWh pro 100 Kilometer. Das Display zeigt am Ende einen niedrigeren Durchschnitt von 26 kWh an. Bei nutzbaren 63 kWh in der Batterie sind rechnerisch also 242 Reise-Kilometer mit dem 2.460 Kilo schweren SUV drin.
Nur chinesische Schriftzeichen
Meine Tour nahm ihren Anfang in München. Dort arbeiten 170 Menschen im Design- und Entwicklungszentrum von Nio. Das chinesische Unternehmen wurde 2014 gegründet und hat seinen Sitz in Shanghai. Im vergangenen Sommer kam der Siebensitzer in China auf den Markt, in diesem Sommer folgte mit dem ES6 ein kleinerer Fünfsitzer. Insgesamt hat Nio bislang rund 20.000 Fahrzeuge verkauft. Laut Auskunft des deutschen Pressesprechers könnte ein Verkauf in Europa in ein bis zwei Jahren starten. Mit so viel Vorlauf gibt es noch keine deutschsprachige Version des Menüs. Somit sind alle Anzeigen hinter dem Lenkrad (8,8 Zoll) und in der Mittelkonsole (10,4 Zoll Touchscreen) in chinesischen Schriftzeichen. Ich kann nur Zahlen wie Tempo, Reichweite und Rekuperationsleistung erkennen.
Die Energierückgewinnung kann ich auch nicht beeinflussen. Es gibt auch kein One-Pedal-Drive. Aber ich sehe ihre Wirkung: Bei einer steilen Serpentinenstrecke färbt sich die Reichweiten-Anzeige rot und mir bleiben noch 41 km. Auf dem Gipfel schieße ich Fotos, bevor ich mit dem ES8 ins Tal rolle. Unten angekommen habe ich 47 km Reichweite.
Chinesische Oberklasse
Damit schaffe ich es zurück ins Dorf Kurtinig, wo es auf dem Parkplatz eine Ladesäule gibt. Der ES8 hat einen Schnellladeanschluss mit 90 kW Leistung nach chinesischem GB/T-Standard. In Europa gibt es solche Ladesäulen nicht, deshalb kann ich nur den Wechselstrom-Anschluss mit Typ 2-Kabel nutzen. Hier sind maximal 7 kW möglich. Lasse ich den Wagen beim Laden eingeschaltet, sinkt die Leistung auf 3,7 kW. Aber ich möchte mir in Ruhe die Innenausstattung anschauen.
Ich sitze auf hellbraunem, perforiertem Leder. Die vorderen Sitze lassen sich sowohl beheizen als auch belüften. Meinem Smartphone gönne ich auf der induktiven Ablage (Qi-Standard) ebenfalls eine Ladepause. Mit dem Finger streiche ich über die handgenähte Lederverkleidung. Es gibt keinen Zweifel, ich sitze in einem Fahrzeug der Oberklasse. Dies ist die Founders Edition, deren Preis in China bei umgerechnet 70.000 Euro liegt. Die Basisversion kostet 57.000 Euro.
Der Beifahrersitz lässt sich mit Waden- und Fußstütze in einen Liegesitz verwandeln. Auf der Rückbank ist viel Bein- und Kopffreiheit. In der ausklappbaren Armlehne verbergen sich zwei Getränkehalter. Neben Leselicht und zwei USB-Anschlüssen verfügen die Mitfahrer auch über eine eigene Klimasteuerung. Eng wird es erst auf der ausklappbaren dritten Sitzreihe. Sie ist eindeutig für Kinder gemacht. Mit sieben Personen im ES 8 bleiben noch 312 Liter Kofferraumvolumen. Werden die Sitzreihen eingeklappt, stehen 873 bzw. 1.863 Liter zur Verfügung. Die Kofferraumklappe öffnet sich mit einem Fußkick unter das Heck.
Der Funkschlüssel nutzt NFC-Technologie, so kann er in der Hosentasche bleiben. Das Öffnen selbst geht sehr einfach: Übt man leichten Druck auf den eingefahrenen Türgriff aus, kommt er zum Vorschein. Das funktioniert auch mit einem entsprechendem Smartphone und der Nio-App. Einschalten muss man den Wagen nicht, er ist direkt startbereit – wie bei Tesla. Einfach den Gangwahlhebel auf D stellen, schon geht’s los. Beim rückwärts Ausparken hilft eine Kamera. Zusammen mit weiteren Objektiven errechnet die Software einen virtuellen Blick von oben auf das fünf Meter lange und 2,26 Meter breite Fahrzeug.
Wuchtiger Riese
Der ES 8 hat insgesamt vier Kameras, fünf Radar- und 12 Ultraschallsensoren. Doch die Assistenzfunktionen sind aus rechtlichen Gründen deaktiviert. Ich kann nur den Tempomaten und den Toten-Winkel-Warner nutzen. Beim Gang um das Fahrzeug fällt vor allem die hohe und senkrecht abfallende Front ins Auge. Unter der Haube gibt es keinen Stauraum, das Ladekabel muss also in den Kofferraum. Mit seinen 21 Zoll großen Reifen, 170 Millimeter Bodenfreiheit und 1,76 Meter Höhe wirkt der SUV extrem wuchtig. Da ist der Luftwiderstandskoeffizient von 0,29 schon fast überraschend niedrig. Im Sport-Modus schafft es das Elektroauto in 4,4 Sekunden von Null auf 100 km/h. Begrenzt ist er auf 200 km/h Höchstgeschwindigkeit.
Als Fahrer bleibt nur noch wenig zu tun, wenn alle Assistenten funktionieren. Man muss nicht mal mehr Knöpfe drücken. Das übernimmt die digitale Assistentin Nomi. Gut, jetzt sind wir im theoretischen Bereich. Nomi versteht nur Mandarin. Also habe ich ihr über die App Google Translator ausrichten lassen, dass ich gern das Glasschiebedach geöffnet hätte. Fehlanzeige. Nomi und die App verstanden sich nicht. Wäre mein Chinesisch besser, hätte ich ihr Navi-Ziele vorgeben können, oder sie hätte mit der Kamera über dem Rückspiegel ein Selfie von mir geschossen. So blieben mir nur ihre verschmitzten Augen. Nomi lebt in einem beweglichen Kugelkopf auf dem Armaturenbrett. Ihre Augen schauen einen an, wenn man mit ihr spricht. Immerhin war sie mit meinem Musikgeschmack einverstanden. Sie zückte eine Gitarre oder schüttelte Rasseln auf dem kleinen Display.
Dennoch war meine Testfahrt nach Italien überaus kommunikativ. Bei jedem Ladestopp, bei jeder Hotel-Übernachtung wurde ich angesprochen. „Was ist das für einer?“, war die häufigste Frage. Am besten fand ich meinen Hotel-Wirt in Kurtinig. Ich hatte bereits ausgecheckt und war zurück an der Ladesäule. Da biegt der Hotelier auf seinem Fahrrad um die Ecke. „Ach, Sie fahren den“, sagt er überrascht. In seiner Tesla-Gruppe habe jemand geschrieben, es sei ein Nio im Ort. Dorfklatsch 2.0. Er habe noch eine Bitte. Ob ich den Wagen vor seinem Hotel parken könnte. Er möchte gern ein Foto vom chinesischen SUV machen.
Fazit
Der Ausflug über die Alpen war ein spannender Blick hinter den Vorhang. Schließlich ist unklar wann und ob der ES8 hierzulande verkauft wird – sofern nicht die wirtschaftlichen Probleme von Nio den Schritt nach Europa verzögern oder gar verhindern. Ein kritischer Blick auf Materialien, Verarbeitung und Haptik während der Benutzung fällt eindeutig aus: Nio ist in Sachen Qualität nur ganz knapp hinter den europäischen Oberklasse-Modellen. Es wird nicht mehr lange dauern, bis sie auf Augenhöhe sind. Beim Preis unterbieten sie ja bereits vergleichbare Fahrzeuge. An der technischen Ausstattung gibt es nichts zu kritisieren. Die tatsächliche Reichweite fällt mit 242 km natürlich zu gering aus. Doch dieser Wagen wiegt 2,4 Tonnen. Physikalische Wunder gibt es auch in Fernost nicht.
Autor: Dirk Kunde
9 Kommentare