10 Beobachtungen zu Fortschritt und Stagnation im Ladeinfrastrukturgeschäft (Teil 2/2)
Im Fokus des zweiten Teils zu den 10 Beobachtungen zu Fortschritt und Stagnation im Ladeinfrastrukturgeschäft stehen nun fünf Beobachtungen zu wesentlichen Erfolgsfaktoren und Fortschrittstreibern.
Denn während einige Marktteilnehmer noch auf der Stelle treten, haben andere in den letzten Jahren bereits riesige Fortschritte gemacht. Im ersten Teil des in der vergangenen Woche erschienenen Fachartikels hat sich Thomas Daiber den Sackgassen im Ladeinfrastrukturgeschäft gewidmet.
Dieser Text vertieft die Präsentation, die der frühere Hubject-Chef und Gründer des Venture Builders Cosmic Cat Group zum Abschluss der ersten Online-Konferenz „electrive.net LIVE“ gehalten hat. Dabei hat Thomas Daiber schmerzhafte Wahrheiten ausgesprochen und polarisiert. Und das tut sein Gastbeitrag auch:
Erfolgstreiber # 1: Die asymmetrischen Wettbewerber
Über die Trennung von Verwendung und Besitz teurer Assets und die Bündelung neuer Services
„Wir sind das AirBnB im Bereich Ladeinfrastruktur.“ – Ladeinfrastrukturmanager beim Fundraising
Der Vergleich zur aufstrebenden Sharing-Economy mit seinen milliardenschweren Role Models ist in vielen Branchen präsent. Nichtsdestotrotz entwickelt sich im Rahmen der Sharing Economy die reine Nutzung kapitalintensiver Assets, ohne diese zu besitzen, zu einem universellen Wachstumstreiber.
Dieses Modell lässt sich nicht nur auf die Verwendung von Ladestationen dritter Betreiber in der Rolle der eMobility Provider übertragen. Die Vergrößerung des eigenen Netzwerks über die Aggregation anderer CPOs ist bereits heute ein Marktstandard, um sich im Wettbewerb zu behaupten. Beim Laden von Elektrofahrzeugen haben sich selbst die dominantesten Spieler mit ihren größten Konkurrenten zusammengetan, um ihr virtuelles Ladenetz zu erweitern.
Reine EMP-Provider und SaaS-Unternehmen mit internationaler Marktpräsenz haben bis heute eine beachtliche Anzahl an Endbenutzer gewonnen, ohne eine einzige Ladestation zu besitzen. Ihre wichtigste Kennzahl sind nicht etwa die Customer Acquisition Costs oder das reine Nutzerwachstum. Aufgrund der wenigen echten USPs sind die ersten Fahrer von Elektrofahrzeugen noch zu preissensitiv und wechselwillig. Interessantere Parameter sind hier niedrige Abwanderungsquoten und die damit verbundene Generierung einer langfristigen Kundenloyalität.
Weiterhin wird die Bündelung branchenfremder digitaler Services rund um den Ladevorgang in den nächsten Jahren eine viel größere Rolle spielen. Erste Unternehmen haben ihr Angebot bereits erfolgreich um die Buchung von Hotels und anderen digitalen Mehrwertservices wie Loyalitätsprogramme zur Bezahlung im Einzelhandel erweitert. Dies sind spannende Lösungen, die den Kunden neben dem Laden neue Benefits bieten und diese stärker an das Produkt und die Marke binden. Es gibt immer mehr innovative Unternehmen im Markt, die das Laden selbst nur noch als Mittel zum Zweck für deutlich mächtigere Erlösströme begreifen.
Fortschritts-Treiber # 2: Die jungen Farmer der Netzwerkökonomie
Über das frühzeitige Aussähen von Samen mit dem Ziel von Netzwerkeffekten
Es gab eine Zeit vor der Trennung von Netzeigentum und Stromabsatz in der Energiewirtschaft. Obwohl mit dem sogenannten „Unbundling“ bereits vor Jahrzehnten die Grundlage für privatwirtschaftlichen Wettbewerb gelegt wurde, handeln und denken viele Energieversorger bis heute lokal und territorial. Die Interaktion zwischen sich im Wettbewerb befindender regionaler Ladestationsbetreiber mit kommunalem Hintergrund ist vereinzelt auch heute noch vergleichbar mit dem Nichtangriffspakt des unrühmlichen Fußballspiels zwischen Österreich und Deutschland („Schande von Gijón“) bei der FIFA-Weltmeisterschaft 1982. Bei diesem in die Geschichte eingegangenen Match haben sich die Mannschaften darauf geeinigt, den Ball nur noch in der eigenen Hälfte zu halten, um das Weiterkommen beider Teams zu sichern. Obwohl der Spiel 1:0 für Deutschland endete, gab es hier langfristig nur Verlierer.
Territoriale Marktaufteilung erhöht Marktfragmentierung und verringert Skalierung
Diese Haltung hat auch ihre Schatten auf das Ladeinfrastrukturgeschäft mit seinen tiefen Wurzeln in die Energiewirtschaft geworfen. Deutschland führt neben China die unrühmliche Hitliste mit hunderten CPOs immer noch an – die meisten davon kleine bis mittelgroße Versorgungsunternehmen mit einer so geringen Anzahl an Ladepunkten, dass die wirtschaftliche Ernsthaftigkeit der Unternehmung zumindest angezweifelt werden darf (siehe dazu auch Sackgasse #3 im ersten Teil des Artikels).
Ähnliche Ansätze sind auch im Automotive-Bereich zu beobachten. Trotz der zumeist internationalen Präsenz von Automobilherstellern und der Zuliefererindustrie, basieren deren Ladelösungen in der Regel auf proprietären Angeboten lokaler Dienstleister. Für die Besitzer eines Elektrofahrzeugs bedeutet dies im schlechtesten Fall: Sobald man die Stadt- oder Landesgrenze überquert, steigt das Risiko, mit der Ladekarte oder App nicht mehr laden zu können, obwohl die entsprechenden Ladestationen als Teil des Netzwerkes ausgewiesen wurden.
TAKE-AWAY NO. 3 – DIGITALE SKALIERUNG UND MARKTEXPANSION
Standardisierung beschleunigt den Netzwerkeffekt
Das beschriebene Dilemma führt zu einem Wettbewerbsvorteil für die neuen von Tesla angeführten elektromobilen OEM-Herausforderer und andere Unternehmen mit Software- Hintergrund. Von Anfang an haben sie verstanden, dass Skaleneffekte nur realisiert werden können, wenn ihre Mehrwertservices zu einem integrierten Gesamtkunstwerk mit gleichbleibender Kundenerfahrung vereinheitlicht werden. Wie groß der diesbezügliche Knowhow-Vorsprung tatsächlich wert ist, wird sich erst in den kommenden Jahren zeigen.
Einige der größten Erfolge in unserer jüngeren Geschichte beruhen auf diesem Gedanken – Produkte wie das iPhone funktionieren überall auf der Welt auf exakt dieselbe Art und Weise.
Erfreulicherweise besteht auf dem Markt besteht bereits vielerorts ein Konsens darüber, dass das Laden von Elektrofahrzeugen wenig mit dem Handeln von Commodities gemein hat. Der Verkauf der Kilowattstunde mit dem Ziel der höchsten Arbitrage ist, wenn überhaupt, eine Teildisziplin eines vielschichtigen digitalen Servicemarktes. So lassen sich die meisten Ladeservices in funktional miteinander vernetzte Einzelmodule aufgliedern: Beim Beispiel des öffentlichen Ladens etwa in das Suchen, Finden, Navigieren, Laden und Bezahlen. Eine weitere Differenzierung in den Kosmos des Ad-hoc- und vertragsbasierten Ladens, analog der deutschen und europäischen Förderrichtlinien, erspare ich Ihnen an dieser Stelle.
Die heutige und zukünftigen Geschäftsmodelle rund um das Laden von Elektrofahrzeugen zeichnen sich somit vor allem durch ihre große Nähe zur Digitalwirtschaft aus.
Mobilität und Digitalisierung verschmelzen. Es liegt es in der Natur der Sache, dass wir Ländergrenzen überschreiten.
Wenn Sie dem zustimmen, wird die Schlussfolgerung wenig überraschen: Entwickeln Sie Ihr Geschäft frühzeitig auf nationaler, besserer internationaler Ebene, um organisch mit Ihren Kunden zu wachsen. Dies ist umso wichtiger für Spieler, die ein Ladenetz oder eine Lade- Community aufbauen wollen, bei der singuläre Wert des Services mit der Anzahl und Qualität beider Komplementäre steigt (auch als „Netzwerkeffekt“ bezeichnet).
Einige der führenden Unternehmen im Bereich Laden, die in den letzten Jahren Wachstumsquoten von 50 bis 150% pro Jahr aufweisen, haben sich diesen Effekt von Anfang an zu Nutze gemacht. In Zeiten, in denen diese noch weit unter zehn Mitarbeiter beschäftigten, wurden bereits international die ersten Samen gesät, die inzwischen Früchte tragen und aggregiert eine kritische Masse für den sich selbst beschleunigenden Netzwerkeffekt darstellen.
Erfolgstreiber # 3: Die neuen „Enabler“
Über die Befähigung von (großen) Unternehmen als eine Alternative, diese zu bekämpfen
Um bei der Fußball-Metapher zu bleiben: Im Hype-Markt Elektromobilität möchte jeder die Tore zunächst selbst schießen, um vor den Fans zu glänzen. Wie im ersten Teil des Artikels analysiert, tun sich die augenscheinlichen Hauptprotagonisten dieses jungen Marktes aber noch etwas schwer damit. Vereinzelt sind sie übersättigt, untrainiert oder haben zu viele andere Interessen neben dem Fußball.
Vielleicht macht es darum mehr Sinn, in die Rolle des Trainers zu wechseln, um den millionenschweren Star-Ensembles neues Leben einzuhauchen.
Dies ist der Weg immer mehr erfolgreicher Technologie- und Serviceunternehmen aus dem Ladeinfrastrukturmarkt. Als reine „B2B-Enabler“ werden sie von den Elektroautofahrern gar nicht oder nur peripher wahrgenommen. Wenn wir also davon ausgehen, dass zum Beispiel die Hersteller von Elektrofahrzeugen langfristig schon alleine aufgrund ihrer historischen Marktmacht und Nähe zum Kunden eine Rolle im Ladeinfrastrukturmarkt spielen werden, können Sie sich diesen Umstand zunutze machen. Helfen Sie ihnen dabei, angebotsfähig zu werden und mit Hilfe Ihrer Produkte und Services zu wachsen.
Aus ehemals Wettbewerbern werden so starke Partner. Und aufgrund des noch kleinen Marktes sind die Entscheidungswege bei Großkonzernen immer noch vergleichsweise überschaubar. Wenn Sie es schaffen, diese Partner langfristig erfolgreich auf den Platz zu schicken und an sich zu binden, gewinnen ihre Kunden die Spiele während sie an der Seitenlinie stehen. Und wie Sie wissen, sind die Saläre von Erfolgstrainern wie Pep Guardiola inzwischen schon höher als die der meisten Ballkünstler.
Erfolgstreiber # 4: Die Lade-Geeks
Über Spezialisten, die frühzeitig technologische Nischen besetzen
Abseits der abgetreten CPO- und EMP-Pfade haben sich hochspezialisierte Technologieunternehmen auf die Besetzung horizontaler Nischen konzentriert. Ziel dieser Übung ist es, anstatt eines allumfassenden One-Stop-Shop-Angebots gezielt Bereiche mit hoher technischer Komplexität und rarer Expertise anzugehen. In Marktsektoren, vor denen sich 99% der Marktteilnehmer scheuen, sind diese „Lade-Geeks“ in ihrem Element. Das Spektrum reicht von Unternehmen aus dem Bereich Vehicle-to-X (V2X), über Hardware- Komponenten und -Controllerentwickler bis hin zu API-Standardisierungsdienstleistern rund um Themen wie Plug-and-Charge oder Eichrecht.
Oftmals ist das heutige Marktpotential noch begrenzt, was der Grund für den geringen Wettbewerbsdruck ist. Langfristig kann eine dominante Marktposition in einem horizontalen Marktsegment jedoch deutlich ertragreicher sein als ein minimaler Anteil an einer der überbevölkerten Vertikalen. Dies ist insbesondere dann eine gute Strategie, wenn es sich um systemkritische Faktoren in der Wertschöpfung handelt, um die man früher oder später nicht herumkommen wird.
Erfolgstreiber # 5: Der Mainstream
Über drei Best-Practice-Geschäftsansätze für das Laden von Elektrofahrzeugen
Mit einer etwas vereinfachten Perspektive können einige der führenden Ladeinfrastrukturunternehmen aus dem Mainstream in drei philosophischen Glaubensströmungen unterteilt werden (ausgenommen Unternehmen, die Hardware-Geräte wie Wallboxes und Ladestationen anbieten). Auch wenn es gefährlich sein kann, den Mainstream-Trends zu folgen, sind sie zumindest für das Gesamtverständnis des Marktes relevant:
1. „Location, location, location“
Standortkampf zur Sicherung der besten Ladeorte im Transaktionsgeschäft um schnelles und ultraschnelles DC-Laden
Starten wir mit denjenigen, die Laden als investitionsintensives Transaktionsgeschäft verstehen. Ähnliche wie in der Immobilienbranche wird die Höhe und Planbarkeit der Umsätze als direkte Folge der Attraktivität des Standortes betrachtet. Die Attraktivität der Location ist somit noch relevanter als die Qualität des Produkts selbst (vgl.: McDonald’s). Aus diesem Grund konzentrieren sich viele dieser Unternehmen auch weniger um die Technologieentwicklung und -Ownership ihrer Soft- und Hardware. Neben tiefen Taschen ist hier bei Entscheidern ein langer Atem und Rückgrat gefragt. Die meisten dieser Businessmodelle können mit Cases aus dem Anlagebau mit Amortisationszeiträumen von 10 bis 15 Jahren verglichen werden.
2. SaaS Plattform Business
Asset-light Softwaregeschäft mit schnellerem Return-on-Investment
Den genauen Gegenentwurf zur ersten Glaubensrichtung bieten Software-Unternehmen, welche Front- und Back-Endlösungen für die unterschiedlichen Anwendungsfälle im Bereich Laden entwickeln. Geringe Grenzkosten und hohe Skalierbarkeit erlauben ein deutlich schnelleres Wachstum bei viel geringerer Burnrate. Dieser innovationsgetriebene Geschäftszweig ist aufgrund seiner hohen Skalierbarkeit deutlich beliebter bei Investoren und Kapitalgebern. Ziel der meisten SaaS-Player ist es, die technologischen Eintrittsbarrieren so gering wie möglich zu halten, um Kunden anschließend nicht mehr aus dem eigenen IT-Universum zu lassen. Der avisierte Technologie Lock-In macht es mit der Zeit immer aufwändiger und teurer, zu einem späteren Zeitpunkt auf andere Systeme zu migrieren. Dies ist gut vergleichbar mit bekannten Ansätzen aus dem ERP-Bereich, wie etwa SAP oder Salesforce. Viele dieser Unternehmen verstehen sich als „Enabler“ und lassen ihre Kunden für das Wachstum sorgen (siehe Erfolgstreiber #3).
Was ist die größte Schwäche dieses Ansatzes? Er verringert die Möglichkeit zur Produkt- und Servicedifferenzierung: Wenn ein Großteil der CPOs und EMPs auf die White Label-Lösungen einschlägiger SaaS-Anbieter setzt, hat der Endkunde die Auswahl aus hunderten nahezu identischen Lösungen. Das Einzige was sich am Ende noch unterscheidet sind Logos und Farben der Front-Ends.
3. Community-Business
Endkundengeschäft mit Fokus auf User Excellence und Brand-Loyalty
Den Schluss des Dreigestirns machen Geschäftsmodelle, die den Elektroautofahrer in den Fokus rücken. Je mehr Endkunden man B2C oder B2B2C in seiner „Lade-Community“ vereinen und halten kann, desto mehr steigt das Erlöspotential und der Wert der Marke. Als neben dem Preis derzeit noch größtes Differenzierungsmerkmal ist hier die einfache Bedienung des Produktes ausschlaggebend. Im Bereich User Experience (UX) gibt es im Ladegeschäft bis heute noch gewaltige Unterschiede. Selbst als langjähriger Elektroautofahrer mit Branchenerfahrung und Nerven aus Drahtseil findet man sich vereinzelt immer noch in Situationen wieder, in denen man sich Mark Zuckerberg, Larry Allison oder Elon Musk als Telefon-Joker wünscht, um das von den Hard- und Softwareentwicklern erschaffene Nutzerführungs-Sudoku zu entschlüsseln.
Wer das Laden zu Hause, beim Arbeitgeber und unterwegs dagegen so intuitiv löst, dass auch Otto-Normalverbraucher und Petrol-Heads Spaß an der Elektromobilität bekommen, dem gehört die Zukunft.
Über den Autor
Thomas Daiber hat nach Stationen bei Daimler, der EnBW und Porsche Consulting mehrere Jahre das Berliner Roaming-Joint-Venture Hubject als Geschäftsführer geleitet. Im Frühjahr 2019 hat er das Fortbildungslabel MOBILITY MASTERS ins Leben gerufen und die Cosmic Cat Group gegründet. Diese versteht sich als unabhängiges Strategiehaus und Venture Builder für neue Mobilität. Das Berliner Unternehmen entwickelt Strategien, Produktkonzepte und baut komplette Organisationen in allen neuen Kerndisziplinen der Mobilität aus.
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