Audi e-tron S: Luxuriöser Supercruiser mit Übergewicht
Audi nimmt mit dem dreimotorigen e-tron S das Layout des Tesla Plaid-Antriebs vorweg. Ist das Vorsprung durch Technik? Christoph M. Schwarzer hat das E-SUV zwei Wochen lang im nasskalten Winter strapaziert, bekannte Tugenden des e-tron angetroffen, aber auch einen Haufen neuer Eindrücke gesammelt.
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Das meistverkaufte Auto des Jahres 2020 in Norwegen war der Audi e-tron. Wohlgemerkt über alle Fahrzeuge, nicht innerhalb der Elektroautos. Und Audi, das ist quattro. Der e-tron hat grundsätzlich Allradantrieb und ist mit 64 Kilowattstunden (abgekürzt kWh, Modellbezeichnung 50) Nettokapazität oder mit 86 kWh (Modellbezeichnung 55) bestellbar. Dazu kommen jeweils zwei Karosserievarianten, nämlich das namenlose Steilheck und das Sportback genannte Schrägheck. Seit Ende des Jahres liefert Audi außerdem das Topmodell e-tron S aus: Statt zwei Elektromotoren hat er drei. Eine Auslegung, die Tesla für das Model S Plaid bisher nur angekündigt hat. Könnte so der Claim Vorsprung durch Technik mit neuem Leben gefüllt werden?
An der Hinterachse des e-tron S treibt je ein Elektromotor über ein 1-Ganggetriebe das Rad an. Das Torque Vectoring, also die Kraftverteilung, zwischen links und rechts arbeitet in Millisekunden und perfekt. Audi löst auf diese Weise ein uraltes Problem: In einer Kurve legt das äußere Rad einen längeren Weg als das innere zurück. Damit das nicht zu Verspannungen führt, verteilt ein Ausgleichsgetriebe die Power. Und genau dieses Ausgleichsgetriebe führt normalerweise dazu, dass überhaupt keine Motorleistung mehr zum Reifen kommt, sobald eine Seite (im Regelfall die Kurveninnere) den Grip verliert.
Das perfekte Differential
Generationen von Ingenieuren haben in der Folge versucht, mit mechanischen Differentialsperren oder elektronischen Bremseingriffen für eine optimale Kraftverteilung zu sorgen. Aber erst die Elektromobilität erlaubt das physikalisch Denkbare, nämlich die optimale und angepasste Links-Rechts-Verteilung.
Der Audi e-tron S ist als Hecktriebler ausgelegt; erst bei Bedarf wird auch der Frontmotor zugeschaltet. Diese Kombination aus drei Elektromotoren hebt die Traktion auf ein neues Niveau: Beim Beschleunigen aus engen Kurven oder Kreiseln heraus schiebt der e-tron S einfach nur an. Die Peak-Leistung beträgt dabei 370 kW und das maximale Drehmoment 973 Newtonmeter. Ein ordentlicher Bumms, bei dem das adaptive Fahrwerk auf dynamic gestellt sein sollte.
Der Standardspurt auf 100 km/h ist in 4,5 Sekunden erledigt. Ein Wert, der um die Jahrtausendwende noch als abartig schnell gegolten hätte, aber von einem Tesla Model X mit 2,8 Sekunden klar unterboten wird. Noch krasser ist das vorbestellbare Model S Plaid, ein quasi Drag-Racer, der die Passagiere in 2,1 Sekunde beziehungsweise als Plaid+ in „unter 2,1 Sekunden“, so Tesla, auf 100 km/h katapultiert. Ein Problem des Audi e-tron S: Übergewicht. Im Fahrzeugschein stehen 2.695 kg, also rund 2,7 Tonnen. Das ist zu viel.
Bei Nässe eher sicher als sportlich
Im grimmigen norddeutschen Winter mit Schneeregen, nassen Straßen und böigem Wind bis Stärke 9 bremst dieser Ballast den Audi merklich ein. Die Winterreifen sind bei der Kurveneinfahrt der begrenzende Faktor. Der e-tron S schiebt trotz niedrigem Schwerpunkt früh über die Vorderräder.
An dieser Stelle gesteht der Autor des Beitrags, in Sachen Sportlichkeit beim Auto nicht von gestern, sondern von vorgestern zu sein: Batterie-elektrische Autos haben einen niedrigen Schwerpunkt und eine gute Lastverteilung zwischen vorne und hinten. Aber sie können per se nicht wirklich agil sein, weil sie zu schwer sind. Nennenswerte Ausnahmen sind der BMW i3 und das Tesla Model 3 SR+. An das, was eine Renault Alpine an Leichtigkeit bietet, reichen sie trotzdem nicht heran.
Das ändert nichts daran, dass der Audi e-tron S objektiv fast immer schneller als der Rest ist. Im zweiwöchigen Testzeitraum war die Straße irgendwann auch trocken – dann geht eine ganze Menge und mit Sommerreifen vermutlich noch mehr.
293 km Winter-Reichweite
Dazu kommen die bekannten Tugenden des Audi e-tron: Die Geräuschdämmung ist hochwirksam, was auf der Autobahn zum zügigen Gleiten führt. Bei 210 km/h wird elektronisch abgeregelt – besser so, denn der Verbrauch steigt im gestreckten Galopp leicht über 40 kWh/100 km. Minimal waren es 22,1 kWh/100 km bei einer Bundesstraßentour.
Der Durchschnittsverbrauch nach Bordcomputer lag bei 29,4 kWh/100 km (inklusive Ladeverlusten 32,2 kWh/100 km). Wegen der extremen Witterung ist dieser Wert das Ergebnis einer vorsichtigen Fahrweise. Rechnerisch ergibt sich daraus eine Reichweite von 293 km. Bei Richtgeschwindigkeit betrug der Verbrauch 34,5 kWh/100 km, woraus sich rund 250 km ergeben. Konkret: Der e-Routenplaner zeigt für die 800 Kilometer lange Strecke nach München fünf Ladestopps an. Für echte Vielfahrer ist der Wagen also ungeeignet. Für einzelne Anforderungsprofile könnte die Brennstoffzelle eben doch sinnvoll sein.
Luxuriöser Supercruiser
Ein guter Teil des hohen Stromkonsums dürfte auf das Konto des miesen und kalten Wetters gehen. Ein von electrive.net im Sommer gefahrener e-tron 55 quattro kam auf 25,4 kWh/100 km im Durchschnitt sowie 27,8 kWh bei Tempo 130. Aber so ist es eben: Jedes Auto muss ganzjährig fahrbar sein, und wer es vergessen hat: Benzinmotoren saufen im Winter, und jene mit Selbstzünder brauchen einen elektrischen Zuheizer, um den Innenraum auf Temperatur zu bringen.
So hinterlässt der Audi e-tron S vor allem den Eindruck eines luxuriösen Supercruisers. Er ist äußerst komfortabel, höchstwertig verarbeitet und leise. Das S im Namen steht zuerst für Sicherheit. Die volle Dynamik entfaltet sich wahrscheinlich erst auf trockener Straße mit Sommerreifen. Und das hohe Gewicht hinterlässt ein Fragezeichen: Wie selbstverständlich soll es werden, dass ein familientaugliches SUV über zwei Tonnen wiegt?
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