Elektromobilität in der Wohnungswirtschaft: Wo Chancen winken und Risiken lauern
Was kann die Wohnungswirtschaft leisten, um ihren Beitrag zur Verkehrs- und Energiewende beizusteuern? Bei der 12. Ausgabe von “electrive.net LIVE” kamen dazu sechs Experten zu Wort – mit durchaus unterschiedlichen Perspektiven auf das Thema. Mit Ringo Lottig mischte vor allem ein Vertreter der Wohnungswirtschaft die Diskussion auf.
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Der Lebenszyklus eines Autos liegt bei rund zehn Jahren, der eines Gebäudes bei rund 100 Jahren. Dieser Vergleich demonstriert: Auto- und Immobilienwirtschaft denken in unterschiedlichen Zeiträumen – und ticken entsprechend unterschiedlich. Hinzu kommen die Energie- und Ladeinfrastruktur-Branche als Brücke zwischen beiden Sektoren mit ihrerseits eigenen Interessen und Eigenheiten. Die jüngste Online-Konferenz von electrive.net stellte das Objektiv scharf auf den privaten Ladeinfrastruktur-Markt, der aktuell in der Wohnungswirtschaft entsteht und der – das sagen alle sechs Experten unisono – enorme Herausforderungen mit sich bringt.
Der erste Teil der Konferenz gehört drei Energie- und Lade-Experten, die aufzeigen, was heute in Tiefgaragen und auf Stellplätzen schon alles möglich ist. Sven Neumann (The Mobility House), Markus Wunsch (Netze BW GmbH) und Christoph Knogler (KEBA Energy Automation) haben Fallbeispiele aus ihrer Praxis und einen Überblick über das Leistungsspektrum ihrer Firmen im Gepäck. Vor allem betonen alle drei aber: Der Schlüssel zu sinnvollen Ladeanlagen in Wohnanlagen ist der Einsatz eines Lastmanagements und smarter Funktionen. Nicht steuerbare Insellösungen haben ihrer Meinung nach keine Zukunftsperspektiven.
Die Aufwärmphase übernimmt Sven Neumann, der auf die Dringlichkeit des Themas verweist: Mit dem für 2025 erwarteten Hochlauf der Elektromobilität stünden nur noch vier Jahre zur Verfügung – „das sind noch vier Eigentümerversammlungen“, betont der Key Account Manager von The Mobility House. Er legt der Wohnungswirtschaft ans Herz, schon jetzt auf intelligente, erweiterbare Ladeanlagen zu setzen, um viele E-Autos parallel laden zu können.
Neben dem in der Branche bereits recht bekannten herstellerunabhängigen Energie- und Lademanagementsystem ChargePilot von The Mobility House zeigt Neumann per Schema auch ein Mal, wie dieses in ein Gebäude-/Ladeinfrastruktur-System eingebettet ist. Außerdem rechnet der Fachmann an Praxisbeispielen vor, was sich durch das Tool an Netzanschluss- und Energiekosten einsparen lässt. In einer Mainzer Tiefgarage summieren sich die Ersparnisse im laufenden Betrieb laut Neumann auf bis zu 50.000 Euro im Jahr. Sein Credo: Jetzt für den Hochlauf der E-Mobilität vorsorgen, aber dabei flexibel bleiben.
Mit Markus Wunsch hält die Sicht eines Verteilnetzbetreibers Einzug in die Konferenz. Der Leiter Netzintegration Elektromobilität der Netze BW GmbH unterstreicht, dass die Netzanschlüsse privater Haushalte an sich nicht für die Versorgung von E-Autos ausgelegt seien. „Das Herausforderndeste waren bisher 3 bis 4 kW Peak von Sauna oder Ofen. Und jetzt kommen E-Autos, die 11 oder sogar 22 kW Strom ziehen wollen“. Für den Netzbetreiber wird das zur Herausforderung – erst recht, weil er dabei nicht nur einzelne Haushalte, sondern ganze Straßenzüge und Quartiere im Blick behalten muss. In sogenannten Netzlaboren schaut sich die Netze BW das bereits seit 2018 genauer an. Daraus resümiert Wunsch die Erkenntnis: „Alles machbar, aber die Belastung der Niederspannung muss durch Transparenz, intelligente Steuerung, Überwachung von Hotspots und vorausschauende Prognosen reduziert werden.“
Zur sprunghaft gestiegenen Nachfrage nach Ladepunkten im eigenen Geschäftsgebiet ruft Wunsch eine interessante Statistik auf: Wurden der Netze BW im April 2020 noch 203 neue Ladepunkte gemeldet (136 privat und 67 gewerblich/öffentlich) waren es im April 2021 schon 1.546 (1.387 privat und 158 gewerblich/öffentlich). An dem präsentierten Balkendiagramm zeigt sich vor allem der enorme Anstieg bei privater Ladeinfrastruktur, zweifellos befeuert von der aktuellen KfW-Förderung. Bis Ende des Jahres rechnet Wunsch mit der Registrierung von dann 40.000 Ladepunkten im Geschäftsgebiet seines Unternehmens.
Mit Christoph Knogler übernimmt ein Vertreter der Ladehardware-Hersteller das Mikro. Der CEO von Keba Energy Automation erinnert an die Anfänge mit der ersten Satellit-Ladelösung vor zwölf Jahren und die rasante Entwicklung, die der Geschäftsbereich seitdem genommen hat. Heute hat Keba nach Angaben von Knogler 250.000 Wallboxen im Feld. In Tiefgaragen können bis zu 16 Keba-Wallboxen zusammengeschaltet werden. Als Herausforderung für den Wohnbau sieht der Keba-Spartenchef nicht nur die steigende Anzahl von E-Autos, sondern vor allem die daraus resultierenden Lastspitzen durch parallele Ladevorgänge, wobei Feldversuche der Österreicher (ebenso wie bei der Netze BW) gezeigt haben, dass die Gleichzeitigkeit der Ladevorgänge weniger gravierend ausfällt, als man es vermuten könnte. Denn: Mit der Zeit fassten die Leute vertrauen, steckten ihr Auto nicht mehr ständig an, sondern nur noch die eins, zwei Mal pro Woche, die in der Regel dem Bedarf entsprächen.
Knogler kündigt an, die aktuelle Limitierung bei Keba auf bis zu 16 Wallboxen durchbrechen zu wollen. „Wir sehen, dass das aktuell bei den meisten Kunden ausreicht. Aber zur Erweiterung haben wir mit Partnern unter Leitung der TU Wien das Projekt Urcharge ins Leben gerufen“. Auf Basis der Erkenntnisse will Keba noch vor Jahresende einen Lastmanagement-Controller in den Handel bringen, mit dem sich mehr als die besagten 16 Wallboxen zusammenschalten lassen können.
In der anschließend von electrive.net-Chef Peter Schwierz moderierten Paneldiskussion nimmt das Trio unter anderem zu den Gesetzes-Novellen GEIG und WEG Stellung. Für Neumann und Knogler gehen diese politischen Initiativen zur Förderung von mehr Ladeinfrastruktur im Gebäudebereich in die richtige Richtung, könnten aber präziser formuliert sein und zur schnelleren Umsetzung anregen. Davon unabhängig verstreuen beide Bedenken, wonach jetzt installierte Ladeanlagen in wenigen Jahren schon überholt sein könnten. „Nur Insellösungen haben ein Ablaufdatum“, so Knogler. Bei vernetzten Geräten müssten zur Modernisierung höchstens Komponenten ausgetauscht werden, meint auch Neumann. Netze-BW-Mann Wunsch kommt auf Nachfrage von Peter Schwierz noch mal auf die per smarte Steuerung geglätteten Lastspitzen bei Ladevorgängen in der Wohnwirtschaft zu sprechen, die den Verteilnetzbetreibern das Leben erleichtert. „Es ist zwingend notwendig, die Ladevorgänge durch Steuerung in die Nacht zu verlängern.“
Die zweite Partie der Konferenz bestreiten Thomas Kreher (inno2grid GmbH), Ringo Lottig (Chemnitzer Siedlungsgemeinschaft eG) und Max Wojtynia (HEIMLADEN GmbH) – und so viel sei vorweggenommen: So leidenschaftlich diskutiert wurde zwischen drei Protagonisten selten. Das liegt vor allem an Ringo Lottig, der als Vorstand der kleinen Wohnbaugenossenschaft CSg eine Lanze für die Wohnungswirtschaft bricht – und vor überzogenen Erwartungen an seine Branche warnt.
Zunächst jedoch zu Thomas Kreher, der Dienstwagen, die häufig ja auch zu Hause geladen werden sollen, als absolute Treiber der Elektromobilität sieht. Der Account Lead Quartiere von inno2grid GmbH legt eine Statistik vor, wonach sich die Menge an E-Autos zwischen 2020 und 2025 verfünffachen wird und die Anzahl privater Ladepunkte um das 23-fache gesteigert werden muss, damit künftig die häufig zitierten 80 Prozent der Ladevorgänge am Wohnsitz oder am Arbeitsort stattfinden können. Ein später noch sehr umstrittener Punkt.
Kreher ist mit Blick auf Laden am Wohnsitz Verfechter von einer flexiblen Stellplatz- und Ladeinfrastrukturnutzung statt fest zugeordneter Plätze und Ladepunkte. In einem Fallbeispiel verweist er auf die potenzielle Reduzierung auf drei statt 16 Ladepunkte für insgesamt 16 E-Autos eines Wohnkomplexes. Die Lade-Kapazitäten könnten etwa via eines Parkraummanagements ausgelastet werden. „Flexible Ladeinfrastrukturkonzepte helfen, den Ausbau bedarfsgerecht zu gestalten und die Investitions- und Betriebskosten im Rahmen zu halten“, so der inno2-Grid-Mann. Das GEIG, das eine Vorrüstung aller Stellplätze bei den meisten Neubauten vorsieht, berge ein hohes Risiko an Unwirtschaftlichkeit, wenn diese 1:1-Anwendung realisiert werde. Allerdings sei es GEIG-konform alternative Konzepte anzuwenden, vorausgesetzt die 1:1-Vorrüstungsquoten werden trotzdem eingehalten. Grundsätzlich begrüßt Kreher das GEIG als Gesetz, um das Thema Ladeinfrastruktur in der Wohnungswirtschaft zu verankern.
Mit Ringo Lottig übernimmt im Anschluss der Vorstand der Chemnitzer Siedlungsgemeinschaft eG (CSg), die sich im Rahmen der IKT-Projekte WINNER und WINNER Reloaded seit 2016 mit E-Mobilität im Kontext mit eigenen PV-Anlagen, Mieterstrom, Carsharing und einem regionalen Ladeverbund („Grüne Säule“) beschäftigt. Sobald Lottig die oben genannten 80 Prozent Ladeabdeckung am Wohn- und Arbeitssitz hört, winkt er ab. „Die Wohnungswirtschaft kann im allerbesten Fall 20 Prozent, realistischer aber 10 Prozent abdecken“. Dafür macht Lottig folgendes Rechenbeispiel auf: „Die CSg hat 4.900 Bestandswohnungen, aber nur 1.100 Stellplätze, von denen sich vielleicht 50 Prozent elektrifizieren lassen. Schauen Sie sich mal den Bestand an! Es gibt Gebäude, da können Sie nicht mal mit Strom kochen, geschweige denn Autos laden. Wir werden zusätzliche Netzanschlüsse brauchen! Und das ist bei den meisten meiner Kollegen genauso.“
Auch flexible Ladekonzepte überzeugen ihn nicht: „Sollen die Leute spät abends oder nachts umparken? Wo sollen sie denn mit ihren Autos hin?“ Bei einem aktuellen, fast abgeschlossenen Bauvorhaben, der sogenannten tanzenden Siedlung, setzt die CSg deshalb auf Ladepunkte an allen 73 Stellplätzen. „In Parkgaragen oder in der Öffentlichkeit mag die flexible Nutzung sinnvoll sein, aber nicht in der klassischen Wohnwirtschaft. Zuhause, das kommt von Heimat und dazu gehört das Ankommen – und nicht mehr weg müssen.“
Lottig warnt insofern vor überzogenen Erwartungen. Der Rechtsanspruch sei gegeben, aber die Stellplatzanzahl begrenzt. Außerdem sei die Elektromobilität für die Wohnungswirtschaft mit einem immensen Aufbau von Know-how und hohen Investitionskosten verbunden, die sich nur schwer refinanzieren ließen. Auf der anderen Seite winkten aber ein zusätzliches Vermietungsargument für die Erschließung neuer Kundengruppen. Aus dem Chat der Online-Veranstaltung erhält Rottig für seine leidenschaftlichen Botschaften Zwischenapplaus.
Abschlussredner Max Wojtynia sitzt Vertretern der Wohnungswirtschaft wie Ringo Lottig häufig gegenüber. Er ist CEO und Gründer von HEIMLADEN GmbH, einem Fullservice-Anbieter, der sich von A bis Z um die Planung, Installation und den Betrieb von Ladeanlagen in Wohngebäuden kümmert. Die Chemnitzer Siedlungsgemeinschaft, die alles in Eigenregie managt, bezeichnet er als Ausnahme. „Die meisten Akteure der Immobilienwirtschaft wollen einen Partner, der alles übernimmt“. Warum das so ist, fasst Wojtynia in drei Punkten zusammen: die Expertise fehle („das fängt schon dabei an, dass sie nicht wissen, wo der Markt gerade steht, wie der Stand der Technik, die Gesetzeslage und die Fördermöglichkeiten aussehen“), die Erfahrung mit der Planung von Ladeinfrastruktur fehle und die Immobilienwirtschaft scheue sich vor dem Austausch mit Mietern, die an Ladepunkten strandeten und Hilfe bräuchten. Das werde lieber delegiert.
Von Wojtynia stammt auch der Vergleich zwischen den eingangs genannten unterschiedlichen Lebenszyklen in der Wohn- und Autoindustrie. „Das musste ich auch erst lernen“, so der Gründer, der das Startup nach fünf Jahren bei Technologie-Berater P3 Ende 2020 ins Leben gerufen hat. Sein Ansatz ist, das Heim-Ladeerlebnis für alle Beteiligten so simpel wie möglich zu machen. „E-Auto-Fahrer wollen nicht wissen, wie ein dynamisches Lastmanagement funktioniert. Sie wollen E-Mobilität einfach genießen“. Im B2C-Bereich bietet die HEIMLADEN GmbH deshalb unter anderem auch ein Wallbox-Abo an.
Die anschließende Paneldiskussion ist ein Selbstläufer: Wojtynia und Lottig plädieren für ein 1:1-E-Auto/Ladepunkt-Verhältnis in Wohnimmobilien, Kreher verteidigt flexible Modelle mit weniger Ladepunkten als E-Autos zur besseren Auslastung, was ihn von Lottig den Verweis einbringt, dass „wir den Fernseher auch nicht mit dem Nachbarn teilen und nicht überall Berlin und München ist“. Einigen kann man sich darauf, dass die Marktnachfrage die Sache entscheiden dürfte. Und Kreher lenkt ein, dass die Flexibilisierung zumindest in Bestandsgebäuden extrem schwer sein dürfte. Wojtynia stimmt ein: „Veränderungen nach dem Motto ,App statt fester Stellplatz‘ könnte da zu Randalen führen.“
Wieder zusammen kommt das Trio bei der Erkenntnis, dass die Wohnungswirtschaft nur ein Player von vielen ist, um die Verkehrswende zu stemmen. „Wir brauchen ein ganzes Bündel an Lösungen“, sagt etwa Kreher. „Die Wohnungswirtschaft kann beim Laden mit langer Verweildauer einen Beitrag leisten“, so Lottig, aber nur im oben genannten 10- bis 20-prozentigem Ausmaß.
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