Serien-eActros: Schlaglicht auf Mercedes‘ E-Lkw-Debüt
In der zweiten Jahreshälfte werden die ersten serienreifen eActros-Lkw von Mercedes-Benz Trucks vom Band laufen. Höchste Zeit also für einen detaillierten Blick ins Datenblatt der gerade enthüllten Serienversion und auf die als „Ökosystem“ entwickelten Services rund um den neuen Elektro-Lkw.
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Das Angebot an E-Lkw war bisher bescheiden – kein Vergleich zur deutlich schneller entwickelten Serienreife bei Elektro-Pkw. Doch das ändert sich gerade. Renault fertigt seine E-Lkw im 16- und 26-Tonnen-Bereich schon seit 2020 in Serie. Volvo ist mit seinem 16- und 27-Tonner ebenfalls schon auf dem Markt. Jetzt zieht also auch Mercedes-Benz Trucks in den Kreis der E-Lkw-Anbieter ein – mit dem eActros, der als Zwei- und als Dreiachser mit 19 beziehungsweise 27 Tonnen zulässigem Gesamtgewicht (Nutzlast zwischen 10,6 und 17,7 Tonnen) im schweren Verteilerverkehr zum Einsatz kommen soll und uns durch eine zweijährige, medial begleitete Kundenerprobung schon recht vertraut scheint.
Doch der Eindruck täuscht, denn die Leistungsdaten der Vorserienmodelle und des nun präsentierten Serien-eActros haben nicht mehr viel gemein – und zwar im positiven Sinne. Das Serienfahrzeug ist wesentlich stärker. Dazu rufen wir mal eben die alten Leistungswerte in Erinnerung: Die zehn Exemplare der 2018 gestarteten „eActros Innovationsflotte“ hatten noch zwei E-Motoren mit je 125 kW Leistung und je 485 Nm Drehmoment und elf Batterien mit einer Gesamtkapazität von 240 kWh an Bord. Die DC-Ladeleistung lag bei 150 kW. Die Fahrzeuge kamen seit 2018 als 18- oder 25-Tonner in zwei Testphasen bei knapp 20 Testkunden zum Einsatz.
Die Spezifikationen des neuen Serienmodells lesen sich nun wie folgt: Die zwei E-Motoren generieren eine Dauerleistung von 330 kW und eine Spitzenleistung von 400 kW. Der Energiespeicher des Serienmodells besteht wahlweise aus drei oder vier im Unterboden platzieren Batteriepaketen mit je 105 kWh. Die maximale Batteriekapazität beträgt demnach 420 kWh, was jetzt für eine Reichweite von bis zu 400 Kilometern sorgen soll.
eActros kombiniert bewährten Rahmen mit ePowertrain-Plattform
Der Hersteller geht noch weiter ins Detail: Als Basis des E-Lkw dient zwar der Rahmen seines Verbrenner-Pendants Actros, ansonsten setzt das Modell aber auf der Plattformarchitektur ePowertrain auf. Alle mittelschweren und schweren E-Lkws mit Batterie- oder Brennstoffzellenantrieb von Mercedes sollen künftig auf dieser Plattform basieren. Herzstück ist eine Elektroachse mit einem oder zwei integrierten Elektromotoren samt Getriebe. Dieses Konzept ermöglicht laut Mercedes-Benz eine kompaktere Bauweise als ein elektrischer Zentralmotor.
Im eActros kommt der ePowertrain in Form einer elektrischen Starrachse mit zwei mittig an der Hinterachse angebrachten, flüssigkeitsgekühlten Elektromotoren und einem Zwei-Gang-Getriebe zum Tragen. Die Batterien sind in Schubladenform unterhalb des Rahmens angebracht. Sie speisen neben dem Antrieb auch das Bordsystem mit Energie. So werden beispielsweise Nebenaggregate wie der Druckluftkompressor der Bremsanlage, der Kompressor der Fahrerhaus-Klimaanlage oder ein etwaiger Kühlaufbau ebenfalls elektrisch betrieben. Bei Bremsvorgängen können die Batterien des eActros wie üblich per Rekuperation schon während der Fahrt wieder Energie aufnehmen. Dafür stehen Fahrern fünf Bremsstufen zur Verfügung.
Geladen werden kann der Serien-eActros mit bis zu 160 kW – und damit um 10 kW schneller als die bisherigen Vorserienmodelle. In der Konfiguration mit drei Batteriepaketen (315 kWh) könne der Ladevorgang von SoC 20 auf 80 Prozent in gut einer Stunde erfolgen, teilt der Hersteller mit. Zur Lkw-Variante mit höherem Energiegehalt macht Mercedes-Benz Trucks keine Angaben. Grundsätzlich informiert eine Anzeige im Cockpit des E-Lkws kontinuierlich über den Ladezustand der Batterien, die verbleibende Reichweite sowie den aktuellen und durchschnittlichen Energieverbrauch in kWh pro 100 Kilometer.
Geräuschpegel bei nur noch 60 Dezibel
Wichtig für Logistiker: Das zulässige Gesamtgewicht des eActros mit Anhänger beziffert Mercedes Benz Trucks auf 40 Tonnen. Zudem liege der Geräuschpegel bei nur noch 60 Dezibel, was auch Nachtanlieferungen möglich mache. Auch im Fahrzeuginneren geht es leiser zu: „Im Volllast-Betrieb trägt zum entspannteren Fahren auch der um 10 Dezibel reduzierte Innengeräuschpegel bei – das entspricht etwa einer Halbierung der wahrgenommenen Lautstärke“, heißt es aus der Unternehmenszentrale.
Daneben betont der Hersteller, dass im eActros serienmäßig das neue „Multimedia-Cockpit Interactive“ verbaut ist und zahlreiche Assistenzsysteme und technische Vorrichtungen für ein hohes Maß an Sicherheit sorgen. So verfügt das Modell ebenfalls serienmäßig über die sogenannte MirrorCam, einen Abbiege-Assistent und einen Notbremsassistent (Active Brake Assist) mit Fußgängererkennung. Die Batterie wird von einem „Battery Temperature Warning System“ überwacht und bautechnisch sind zum Schutz der Batterien im Falle eines Seitencrashs spezielle Crashelemente angebracht. „Das Aluminium-Profil dieser Elemente ermöglicht dabei die möglichst große Energieabsorption. Darin integriert sind darüber hinaus Sensoren, die einen Crashfall erkennen können. In diesem Fall würde automatisch die HV-Batterie vom Rest des Fahrzeugs getrennt werden“, teilt Mercedes-Benz Trucks mit. Und: Neben der automatischen Abschaltung gebe es jederzeit die Möglichkeit, manuell die im Fahrerhaus installierte HV-Abschaltung zu betätigen.
So viel zum Fahrzeug selbst. Da aus Sicht von Mercedes-Benz Trucks der Kauf eines eActros nur der erste Schritt zum emissionsfreien Transport sein kann, gibt das Unternehmen Logistikern für den Umstieg auf die E-Mobilität ergänzend ein Beratungs- und Servicepaket samt digitaler Tools an die Hand. Dieses „ganzheitliche Ökosystem“, wie es der Hersteller nennt, solle dabei helfen, den eActros in die Flotte zu integrieren, eine hohe Fahrzeugnutzung zu garantieren und die Gesamtkosten (TCO) zu optimieren.
Hilfe bei Einsatzplanung, Förderung, Ladeanlage…
Große E-Nutzfahrzeuge in der Logistik sind noch Neuland. Deshalb baut der Hersteller zuvorderst ein Beratungsangebot namens eConsulting auf, das Flottenkunden begleiten soll – beginnend bei der Ermittlung von Nutzungsprofilen für den eActros bis hin zur effizienten Fahrzeugnutzung und Prüfung möglicher öffentlicher Förderungen für Infrastruktur und Fahrzeuge. Auch Starthilfe bei der Planung und Umsetzung der Ladeanlagen integriert der Hersteller in sein Dienstleistungsangebot – und zwar in Kooperation mit den Ladeinfrastruktur-Spezialisten Siemens Smart Infrastructure, Engie und EVBox Group.
Ein weiteres Thema ist die Bereitstellung von digitalen Lösungen und Apps zur effizienten Steuerung des eActros innerhalb einer Flotte. Dazu gehören Mercedes-Benz Trucks’ sogenanntes Fleetboard Portal, ein individuell ausgearbeitetes Charge Management System sowie ein Logbook mit detaillierten Angaben zu Fahr-, Stand- und Ladezeiten und ein Mapping-Tool, das in Echtzeit anzeigt, wo sich ein Fahrzeug gerade befindet, ob es fährt, steht oder lädt und wie hoch der Ladezustand der Batterie ist.
Darüber hinaus ist für den eActros auch der Servicevertrag Mercedes-Benz Complete verfügbar, der Werkstattarbeiten für Wartung und Reparatur des Gesamtfahrzeugs sowie des Antriebsstrangs inklusive Verschleißteile abdeckt. Darin enthalten ist auch der Kundenbetreuungsservice Mercedes-Benz Uptime, der „bereits um mehr als 100 e-spezifische Regeln erweitert wurde“, wie der Nutzfahrzeugbauer mitteilt.
Andreas von Wallfeld, Leiter Vertrieb & Marketing von Mercedes-Benz Lkw, fasst zusammen: „Mit einer Reichweite von bis zu 400 Kilometern, einem zulässigen Gesamtgewicht mit Anhänger von bis zu 40 Tonnen und zwei leistungsstarken E-Motoren für eine Spitzenleistung von 400 kW ist der eActros für den täglichen Einsatz bei unseren Kunden bestens gerüstet. Neben dem Lkw unterstützen unsere digitalen Services und die neuen eConsulting-Teams unsere Kunden dabei, so einfach und nahtlos wie möglich auf E-Mobilität umzustellen – etwa wie bei Fragen zu Ladeinfrastruktur, Flottenintegration oder Routenplanung.“
Elektrischer Niederflur-Lkw eEconic folgt 2022
Die endgültigen Spezifikationen des Serienmodells beruhen laut den Stuttgartern auf sämtlichen Erkenntnissen aus der 2018 gestarteten „eActros Innovationsflotte“ und dem daraus resultierenden engen Austausch mit den Kunden. Insgesamt zehn eActros-Prototypen hatte Mercedes-Benz in den vergangenen Jahren in Deutschland und anderen europäischen Ländern testen lassen. Erstmals vorgestellt worden war das Konzeptfahrzeug des eActros 2016 auf der Nutzfahrzeug IAA in Hannover.
Seitdem sind fast fünf Jahre vergangen. Zur Präsentation des Serien-Actros spielte Mercedes-Benz Trucks nun ein Video mit Fahrer-Eindrücken aus der Kundenerprobungsphase ein. Die Zitate reichten von „Das lauteste am eActros ist der Blinker“ über Aussagen wie „Der Anzug der Elektromotoren ist super, das Fahrzeug ist extrem leise“ bis hin zu dem Statement „Am Anfang denkt man: Er ist nicht an. Andere Lkw- und auch Pkw-Fahrer sind sehr erstaunt, dass er so schnell mitkommt im Verkehr. Was ich meine: Er fährt genauso schnell an, wie ein normales Auto“. Dass bei einer Marketingveranstaltung wie der eActros-Präsentation selbstverständlich nur lobende Zitate zu hören waren, sei der Vollständigkeit halber erwähnt.
Produziert wird das Serienmodell ab Herbst 2021 im Lkw-Montagewerk von Mercedes-Benz Trucks in Wörth am Rhein. Für die neuen Produktionsprozesse ist dort in den vergangenen Monaten unter anderem eine neue Montagelinie errichtet worden. In einem ersten Schritt wird das Serienmodell in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Italien, Spanien, Frankreich, den Niederlanden, Belgien, Großbritannien, Dänemark, Norwegen und Schweden verfügbar sein. Weitere Märkte sollen folgen.
Ein weiteres Modell für den Fernverkehr will Mercedes schon bald folgen lassen: Die Serienfertigung des Niederflur-Lkw Mercedes-Benz eEconic ist für das Jahr 2022 vorgesehen. Der Batterie-elektrische eActros LongHaul soll zudem 2024 und der GenH2 Truck mit wasserstoffbasierter Brennstoffzelle in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts auf den Markt kommen. „Wir verfolgen konsequent unsere Technologiestrategie bei der Elektrifizierung unserer Lkw. Unser Ziel ist, unseren Kunden je nach Anwendungsfall die besten lokal CO2-neutralen Lkw auf Basis von Batterien oder wasserstoffbasierten Brennstoffzellen anzubieten“, sagt Martin Daum, Vorstandsvorsitzender der Daimler Truck AG.
Daimler Truck soll bekanntlich aus der Daimler AG ausgegliedert und an die Börse gebracht werden. Der Nfz-Hersteller verfolgt die Ambition, bis 2039 in Europa, Japan und Nordamerika nur noch Neufahrzeuge anzubieten, die im Fahrbetrieb („tank-to-wheel“) CO2-neutral sind. Bereits 2022 soll das Fahrzeugportfolio in den Hauptabsatzregionen Europa, USA und Japan Serienfahrzeuge um Batterie-elektrische Antriebe ergänzt sein. Ab 2027 will das Unternehmen sein Fahrzeugangebot zusätzlich um Serienfahrzeuge mit wasserstoffbasiertem Brennstoffzellenantrieb aufstocken. Langfristiges Ziel ist der CO2-neutrale Transport auf den Straßen bis 2050.
daimler.com
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