Kia EV6: Fahraktiver Lade-Meister mit Familienqualitäten
Mit bis zu 240 kW Ladeleistung sticht der Kia EV6 sogar sein Schwestermodell Hyundai Ioniq 5 aus – der etwas größeren Batterie sei Dank. Den EV6 aber auf das Schnellladen zu reduzieren, greift zu kurz – wie unsere erste Ausfahrt zeigt.
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Bis zu 240 kW, Strom für 100 Kilometer in 4,5 Minuten oder von 10 auf 80 Prozent in 18 Minuten – und das bei einer 77,4 kWh großen Batterie. Egal welchen Aspekt man beim EV6 rund um das Schnellladen aufgreift, die Zahlen auf dem Papier sind beeindruckend und eben noch das kleine Bisschen besser als beim viel gelobten Ioniq 5. Die Unterschiede reichen zwar, um den Hyundai im E-Auto-Quartett auszustechen, in der Praxis sind sie allerdings geringer.
Doch angesichts der Ladeleistung den EV6 als Schnelllade-Auto ausschließlich für Langstreckenfahrer abzustempeln, wird Kias erstem E-GMP-Modell nicht gerecht. Die Qualitäten gehen weit über die Ladeleistung hinaus. Zahlreiche Assistenzsysteme und Komfort-Features, die die Fahrt angenehmer und sicherer machen, gibt es nämlich bereits im Basismodell ab 44.990 Euro vor bzw. 35.420 Euro nach Förderung.
Für das erste Kennenlernen hat uns Kia nicht das Basismodell mit 58-kWh-Akku und 125 kW Leistung, sondern den Allradler mit großer Batterie und „GT-Line“-Ausstattung zur Verfügung gestellt – zu den Preisen, Leistungsdaten und Ausstattungen gleich mehr. Da wir den Ioniq 5 bereits fahren konnten, kommt vieles im Kia vertraut vor – etwa die beiden großen Displays, wenn auch hier leicht gebogen. Grafik und Funktionalität sind bekannt. Auffällig ist vor allem die anders gestaltete Mittelkonsole, hier hat Kia nicht nur den Wählschalter für die Fahrstufe, sondern auch die Schnellwahl-Tasten für Sitzheizung, -belüftung und die Lenkradheizung platziert. Genügend Stauraum und Ablagen gibt es aber immer noch.
Rund 360 Kilometer scheinen realistisch
Bei Abfahrt zeigt der Bordcomputer eine Reichweite von 444 Kilometern bei 100 Prozent SoC an. Die Werksangabe für den 239 kW starken Allradler liegt zwar bei 506 Kilometern (reichweitenstärkste Variante ist der 168 kW starke Hecktriebler mit großer Batterie und 528 Kilometern), dieser Wert gilt allerdings nur mit den 19-Zoll-Felgen. Auf dem Testwagen sind aber die optionalen 20-Zöller montiert, die etwas Reichweite kosten. Kurz zu den äußeren Bedingungen: Es war mit rund zehn Grad recht frisch, die Straßen waren zu Anfang noch feucht. Obwohl das Fahrzeug voll geladen war, war es nicht vorkonditioniert.
Das hat sich auf den ersten Kilometern beim Verbrauch spürbar gemacht: Obwohl wir im Eco-Modus (dabei wird etwa der vordere E-Motor mechanisch abgekoppelt) und mit entspannter Fahrweise unterwegs waren, stieg die Verbrauchsanzeige auf bis zu 26 kWh/100km. Die Klimaanlage (auf 22 Grad eingestellt) benötigte etwas Zusatz-Energie aus dem Akku, aber auch das Streckenprofil hat den Verbrauch erhöht: Von Saarlouis aus ging es über Dörfer und Landstraßen in Richtung Hunsrück – und damit zumeist bergauf. Als der Innenraum warm und die größten Anstiege überwunden waren, pendelte sich der Verbrauch laut Anzeige zwischen 21,7 und 22,0 kWh auf 100 Kilometer ein. Mit unserem Verbrauch zeigte der Bordcomputer am Ende der Testfahrt über 180 Kilometer übrigens noch 49 Prozent Ladestand an – die hochgerechnet rund 360 Kilometer scheinen angesichts der Umgebungsbedingungen realistisch.
Mit diesen Verbräuchen ergibt sich rechnerisch – nicht getestet – für den Basis-EV6 mit der 58 kWh großen Batterie eine Reichweite von rund 260 Kilometern. Wer zu Hause oder beim Arbeitgeber laden kann, kann mitunter auf den großen Akku verzichten und einige Tausend Euro sparen. Als Pendler-Auto mit Familien-Potenzial taugt der „kleine“ EV6 so allemal – bei 15.000 Kilometer im Jahr entspricht das 57 Ladevorgängen, also nur rund ein Mal Laden pro Woche. Wenn es dann doch mal auf die Langstrecke geht: Mit 180 kW Ladeleistung liegt die Ladedauer von zehn auf 80 Prozent wie beim großen Akku bei 18 Minuten. Die Ladepausen sind kurz – aber eben nur etwas häufiger.
Ein Vergleich zum Testverbrauch bei der ersten Ausfahrt des Ioniq 5 ist aber nur schwer möglich. Mit dem 225 kW starken Allradler mit 72,6 kWh großer Batterie kamen wir auf über 200 Kilometern auf 17,2 kWh/100km im Schnitt. Allerdings in flacherem Gelände und vor allem bei rund 26 Grad Außentemperatur. Ob der etwas flachere EV6 in der Praxis etwas sparsamer ist oder der Hyundai mit seiner leichteren Batterie, kann nur ein direkter Vergleich zeigen.
Ein Unterschied zwischen den beiden E-GMP-Modellen wird aber schnell klar: Kia hat bei der Auslegung mehr Wert auf die Dynamik gelegt. Damit sind nicht die paar Kilowatt mehr gemeint, sondern das Fahrwerk. Der Radstand ist zwar zehn Zentimeter kürzer als beim Hyundai, mit 2,90 Metern aber immer noch recht lang. In den Kurven fühlt sich der Kia trotz dieser Maße handlich an, der Aufbau bewegt sich wenig. Der Hyundai spielt hier mehr die Komfort-Karte – auf der Autobahn wird aber auch der Kia mit den 20-Zöllern nicht zu hart. Einstellbare Dämpfer gibt es übrigens bei beiden Modellen nicht.
Kurzer Lade-Test fällt ernüchternd aus
Die herbstlichen Temperaturen bei unserer Testfahrt im Kia haben übrigens nicht nur Einfluss auf den Verbrauch, sondern auch auf die Ladeleistung. Zur Erinnerung: Im Hochsommer sprang der Ioniq 5 mit selbst 82 Prozent SoC auf 124 kW Ladeleistung. Als wir den EV6 nach rund einer Stunde Fahrt an einen 300-kW-Hypercharger anschlossen, flossen bei 72 Prozent SoC weniger als 50 kW in den Akku. Mit der zuvor zurückhaltenden Fahrweise im Eco-Modus hat sich offenbar der Akku nicht genügend erwärmt. Den Winter-Modus, in dem die Batterie vorgewärmt wird, hatten wir bei 14 Grad Außentemperatur noch nicht aktiviert.
Interessanterweise blieb der Verbrauch auch auf der Autobahn mehr oder weniger auf diesem Niveau. Hier haben zwar leider längere Baustellen mit 60 bis 80 km/h den Schnitt etwas gedrückt, bei Geschwindigkeiten über 130 km/h stieg der Verbrauch aber nicht rapide an. Mit Ausnahme des ab Ende 2022 erhältlichen GT mit 430 kW Leistung sind alle EV6-Varianten bei 185 km/h abgeregelt. Rund um die 130 km/h fühlt sich der Kia aber wohl, bei höherem Tempo wird es im Innenraum deutlich lauter.
Die Autobahn-Fahrt sollen zahlreiche Assistenten angenehmer machen, etwa der ab Werk verbaute Highway Driving Assist 2.0 (HDA). Dieser stellt auf Wunsch nicht nur im Tempomat automatisch die derzeit erlaubte Geschwindigkeit ein, sondern hält auch die Spur. Eine Besonderheit: Laut Kia soll der EV6 dabei je nach Bedarf die Spurbreite voll ausnutzen können. Kommt einem also der Nebenmann auf seiner Spur zu nahe, weicht der EV6 innerhalb der eigenen Spur etwas zur Seite aus – wie es ein menschlicher Fahrer auch machen würde.
Das hat bei unserem ersten Test gut funktioniert – auf der 180 Kilometer langen Testrunde, davon grob geschätzt 80 Kilometer auf Autobahnen, hatten wir zu keiner Zeit das Gefühl, in die Spurhaltung eingreifen zu müssen. Anders bei der Tempolimit-Erkennung: Hier hat der EV6 nicht alle Schilderbrücken mit wechselnden Anzeigen erkannt.
In der Stadt hat der Tempomat sehr zuverlässig funktioniert, auch im Stopp&Go-Verkehr. Auf Dauer unangenehm ist aber, dass der EV6 jede Aktion mit einem Piepsen bestätigt. Er fährt wieder an – Pieps. Er erkennt ein neues Tempolimit – Pieps. Obwohl das Auto nur seinen Job macht, klingt es jedes Mal nach einer Warnmeldung – und wird so den ein oder anderen Nutzer eher verwirren.
Verwirrend ist auch die Navigation mit der (fehlenden) Routenplanung. Wer im Fahrzeug ein weit entferntes Ziel eingibt – in unserem Fall bei Standort in Saarlouis nach Berlin – schlägt das Fahrzeug nicht einen passenden Schnelllader entlang der Route vor, sondern eine 320 Meter entfernte AC-Ladesäule. Das Auto lässt den unerfahrenen Nutzer also erst einmal den noch rund halb vollen Akku in mehr als 3,5 Stunden in Saarlouis laden, anstatt einen sagen wir rund 150 Kilometer entfernten HPC einzuplanen – bis dahin könnte der Akku für die optimale Ladegeschwindigkeit vorgewärmt werden, 18 Minuten laden und weiter auf die nächsten 300 Kilometer. In den Einstellungen lässt sich zwar nach Lade-Vorschlägen entlang der Route filtern und dabei selbst einzelne Betreiber auswählen. Nur wurden in unserem Test „keine Ergebnisse gefunden“. Selbst wenn man Ladepunkte findet, müssen diese als gewöhnlicher Wegpunkt hinzugefügt werden.
Schwächen bei der Software
Die Ladeplanung gibt es bei Kia nur per App, in diesem Fall die „Kia Connect“-App. Zudem gibt es noch den Ladedienst „Charge myKia“ (in Kooperation mit DCS), der im ersten Jahr keine monatlichen Gebühren kostet (danach 4,99 Euro/Monat). Immerhin ein Umweg, um an eine Ladeplanung zu kommen – aber für ein Auto, das mit Zusatzausstattung und Paketen knapp 60.000 Euro kosten kann, nicht zufriedenstellend. Eine gezielte Vorkonditionierung der Batterie vor dem Ladestopp gibt es aber auch dann nicht.
Bei der Bedienung des 12,3 Zoll großen Touchscreens hilft das leicht zum Fahrer gebogene Display zwar etwas, aber nicht genug: Der rechte Bildschirm-Bereich ist schon sehr weit weg. Die Menüführung selbst ist recht simpel und benötigt wenig Eingewöhnung. Ob das auch auf die Touch-Leiste unterhalb des Displays zutrifft, können wir nach der kurzen Testfahrt noch nicht sagen. Hier hat Kia eine Doppel-Belegung gewählt: Per Tastendruck können hier entweder die Klima-Einstellungen (und mit den beiden Drehreglern die Temperatur) geändert werden oder per Schnellwahltaste Navi, Karte, Media usw. Der linke Drehregler ist dann für die Lautstärke zuständig. Bei der Testfahrt lief natürlich jede Bedienung bewusst ab. Wie oft im Alltag das Radio leiser gedreht wurde, obwohl man eigentlich die Temperatur etwas senken wollte, werden wohl erst Langzeit-Tests und Nutzererfahrungen zeigen.
Letzter Punkt bei der Bedienung: Beim Lenkrad hat Kia ein gänzlich anderes Konzept gewählt als etwa Tesla beim Model Y. Statt zwei Drehreglern bietet der Kia am Lenkrad neun Tasten und vier Wipp-Schalter. Dazu kommen noch die Schaltwippen zur Wahl der Rekuperation – hier gibt es vier Stufen und eine Automatik-Funktion, bei der das Auto die Stärke der Rekuperation selbst bedarfsgerecht wählt. Wie auch schon bei der fehlenden Ladeplanung: Mit dem EV6 zurechtzukommen, will angesichts der Fülle an Funktionen und Möglichkeiten gelernt sein.
Etwas weniger Platz als im Ioniq 5, aber mehr als genug
Die Platzverhältnisse sind für Fahrer und Beifahrer mehr als ausreichend. Die Mittelkonsole vermittelt zwar ein anderes Raumgefühl als im luftiger gestalteten Ioniq 5, engt aber nicht ein. Die Beinfreiheit für Mitfahrer auf der Rückbank ist enorm, jedoch auch nötig: Da alles etwas flacher ist als im Hyundai, ist hier auch der Kniewinkel flacher.
Obwohl der EV6 etwas länger ist als der Ioniq 5, fällt der Kofferraum etwas kleiner aus – mit 490 bis 1.300 Liter. Hier kommt es ein wenig auf den Einsatzzweck an: Mit einem Meter Tiefe und 1,04 Metern Breite ist die Grundfläche groß, die abfallende Heckscheibe schränkt aber den Laderaum nach oben ein. Die geladenen Gegenstände können zwar groß sein, sollten aber nicht all zu hoch werden: Die maximale Höhe von 68 Zentimetern steht nur in einem kleinen Teil nahe der Rücksitzlehnen zur Verfügung und sinkt auf rund 37 Zentimeter direkt am Heck ab. Unter dem Kofferraumboden gibt es noch ein recht flaches Staufach. Der Frunk fasst bis zu 52 Liter (Allradler: 20 Liter) und ist somit eher für die Ladekabel als großes Gepäck geeignet.
Größeres Transportgut muss also entweder in eine Dachbox (Dachlast 80 Kilogramm) oder in einen Anhänger. Das Basismodell mit kleiner Batterie darf maximal 750 Kilogramm ziehen, mit der großen Batterie sind es 1,6 Tonnen – auch beim EV6 GT. Kia geht aber davon aus, dass bei der optionalen Anhängerkupplung für die Kunden meist nicht die maximale Anhängelast wichtig ist, sondern eher die zulässige Stützlast: Diese liegt bei 100 Kilogramm, es können also auch mehrere E-Bikes auf einem Fahrradträger mitgenommen werden. Übrigens: Kia Deutschland baut in alle EV6 vor Auslieferung die Vorrüstung für die abnehmbare Anhängerkupplung ein, sie kann also jederzeit im Zubehör nachgeordert werden. Eine klappbare Anhängerkupplung war aufgrund der Platzverhältnisse nicht möglich.
Wenn wir bei den Gewichten sind: Das Leergewicht mit der großen Batterie liegt je nach Motorisierung und Ausstattung zwischen 2,0 und 2,2 Tonnen, das Basismodell bringt 1,875 Tonnen auf die Waage. Die Zuladung liegt bei 465 Kilogramm (Basis) bzw. 440 Kilogramm mit der großen Batterie.
Die Preise für den EV6 beginnen bei den genannten 44.990 Euro. Da bei Kia die große Batterie offiziell eine Ausstattungsvariante des Basismodells ist, gibt es hier auch keinen Basispreis, sondern nur Aufpreise. Das Upgrade von der 58-kWh-Batterie auf die 77,4 kWh große Batterie kostet 4.000 Euro, der Allradler mit großer Batterie 7.900 Euro mehr. Somit ergeben sich rechnerisch 48.990 Euro und 52.890 Euro als Basispreis für die beiden Varianten. Die frühen Reservierer erhalten zwar inzwischen ihre Fahrzeuge. Wer jetzt bestellt, muss aber zwischen sechs und zwölf Monaten auf seinen Wunsch-EV6 warten – Händlerfahrzeuge können früher verfügbar sein.
Unser Testwagen verfügte noch über die „GT-Line“-Ausstattung. Diese kostet 6.000 Euro Aufpreis und enthält u.a. andere Sitzbezüge (alle Innenraum-Varianten sind vegan), Sitzbelüftung vorn und Sitzheizung hinten, anders gestaltete 19-Zoll-Felgen, bei der Lackierung eine andere Farbauswahl als das Basismodell und einige kleinere Änderungen an der Karosserie. In der „GT-Line“ ist auch die Vehicle2Load-Funktion des EV6 enthalten, also der Adapter für den Ladeanschluss, mit dem Strom aus der Antriebsbatterie entnommen werden kann. Die Wärmepumpe ist aber auch hier nicht enthalten, sie kostet bei allen Ausstattung 1.000 Euro Aufpreis.
Fazit
Kia ist mit dem EV6 ein gutes, aber kein fehlerfreies Elektroauto gelungen. Mit eigenständigem Design, dynamischen Fahrwerk und mehr Leistung hebt sich der EV6 nicht nur vom Ioniq 5 ab, sondern soll ein Vorbote für die weiteren Modelle sein: Kia will sich weiter nach oben positionieren. Das ist zwar möglich, aber auch nicht ohne Risiken. Ja, man kann knapp 60.000 Euro für einen Kia ausgeben und erhält dafür ein in vielen Bereichen fortschrittliches Elektroauto. Damit Kia das fortschrittliche Markenimage etablieren kann, müssen aber auch andere Faktoren passen – wie etwa die erwähnte Ladeplanung und Batterie-Konditionierung. In einem Punkt ist der EV6 gegenüber einem e-Niro ein Rückschritt: Der Heckscheibenwischer ist bei einem 60.000-Euro-Auto dem Rotstift zum Opfer gefallen.
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