„electrive.net LIVE“: Quo vadis Elektromobilität 2022?
Die Ampel-Koalition ist im Regierungsmodus angekommen und hat große Ziele – 15 Millionen Elektro-Pkw und eine Million Ladepunkte bis 2030. Die Zeichen stehen klar auf Elektromobilität. Oder doch nicht ganz? Wie ambitioniert die neue Regierung ist, hat die politische Diskussion bei unserer bisher größten Online-Konferenz „electrive.net LIVE“ gezeigt.
Die Ausgangslage für 2022 war gut: Mit dem Ende des Jahres vorgestellten Koalitionsvertrag war die Richtung für die Elektromobilität so klar wie lange nicht mehr. 15 Millionen vollelektrische Fahrzeuge bis 2030, Investitionen in Schnellladestationen und bidirektionales Laden sowie der Einsatz von Wasserstoff vorrangig in jenen Bereichen, in denen eine direkte Elektrifizierung nicht möglich ist. Über das „Ob“ wird schon lange nicht mehr diskutiert, das „Was“ war mit dem Vertrag zwischen SPD, Grünen und FDP auch klar. Also kann es 2022 mit aller Kraft um das „Wie“ gehen.
Einen Eindruck, den auch der zuständige Minister Volker Wissing (FDP) zunächst stärkte – zumindest für wenige Stunden. In seinem ersten großen Interview nach der Übernahme des neu formierten Bundesministeriums für Digitales und Verkehr machte Wissing im „Tagesspiegel“ klare Ansagen. Entgegen der Haltung seiner Partei im Wahlkampf sprach sich Wissing klar für den E-Antrieb im Pkw und gegen E-Fuels aus. „Wir müssen die verschiedenen Energieträger dort einsetzen, wo sie am effizientesten sind. Das ist beim Pkw der E-Antrieb.“ Die E-Fuels werde man vor allem für den Flugverkehr brauchen. „Auf absehbare Zeit werden wir aber nicht genug E-Fuels haben, um die jetzt zugelassenen Pkw mit Verbrennungsmotor damit zu betreiben“, so Wissing.
Das Interview war sehr wahrscheinlich den in Deutschland üblichen Prozess der Freigabe gegangen. Sprich: Die Kommunikationsabteilung des Ministers hat die Zitate wörtlich abgesegnet, die Aussagen waren also bewusst. Nur: Am selben Tag, an dem das viel beachtete Interview erschien, trat Wissing auch im Bundestag ans Rednerpult. Mit gänzlich anderem Inhalt. „E-Mobilität ist für die Einhaltung der Klimaschutzziele ein wichtiger Baustein“, sagte Wissing im Bundestag. „Gleiches gilt aber auch für strombasierte Kraftstoffe – E-Fuels. Nicht nur im Flugverkehr, auch im Schiffsverkehr, bei den Nutzfahrzeugen und natürlich auch in den Bestandsflotten der Pkw.“
Wenig später stellte Wissing sogar das im Koalitionsvertrag vereinbarte Ziel von 15 Millionen vollelektrischen Autos bis 2030 in Frage – indem er wieder auf die Klima-Vorteile von Hybriden hinwies. Statt klarer Kante also doch wieder ein Hin und Her?
Bei der insgesamt 16. Ausgabe unserer Online-Konferenz „electrive.net LIVE“ – moderiert von electrive.net-Chefredakteur Peter Schwierz – stand Daniela Kluckert Rede und Antwort. Die Berlinerin ist nicht nur neue Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV), sondern wurde von Wissing auch als Beauftragte für Ladesäuleninfrastruktur eingesetzt. Ein Posten, den es im CSU-geführten BMVI nicht gab.
„Es ist gut, sich hohe Ziele zu setzen“
Wie ambitioniert ist also die neue Regierung nach den teils widersprüchlichen Aussagen des Verkehrsministers? Mit Blick auf die Zahlen ist die Lage klar – und zugleich wieder nicht. „Im Koalitionsvertrag stehen 15 Millionen vollelektrische Autos“, bekräftigt Kluckert vor rund 1.000 digitalen Teilnehmern der Online-Konferenz. Sie ergänzt aber direkt: „Es ist gut, sich hohe Ziele zu setzen. Bei dem großen Ziel des Klimaschutzes ist die Technologieoffenheit wichtig. Elektroautos spielen eine große Rolle, aber auch Hybride und andere Technologien.“
Ob die Plug-in-Hybride bei den 15 Millionen Elektro-Pkw dann doch – entgegen der Aussage „vollelektrisch“ im Koalitionsvertrag – über eine Hintertür eingerechnet werden oder on top kommen, und wie die „andere Technologien“ – also offenkundig Brennstoffzellen und E-Fuels – bei den Klimaschutzzielen im Verkehr genau berücksichtigt werden, bestätigt Kluckert auch auf wiederholte Nachfrage von Moderator Peter Schwierz nicht im Detail. Dass derartige Fragen die Branche bewegen, macht im Anschluss VDA-Präsidentin Hildegard Müller klar und hält fest, dass dieser Punkt aus ihrer Sicht im Koalitionsvertrag nicht so exakt und definitiv sei wie oft dargestellt.
In zwei wichtigen Punkten sind sich das BMDV und der VDA aber einig: Die E-Mobilität kommt schnell und wir brauchen mehr Ladepunkte. Doch wie gelingt der Weg dorthin? Kluckert gibt einige Einblicke in die Planungen des FDP-geführten Ministeriums. „Wir brauchen auch finanzielle Anreize. Es ist wichtig, dass wir weiter mit dem Umweltbonus das Marktwachstum unterstützen und mit der Förderrichtlinie Elektromobilität seit 2015 weitere Anreize setzen.“ Eine Aussage, die überrascht – schließlich hatte sich die Partei im Wahlkampf noch gegen Subventionen ausgesprochen.
Dennoch wird nicht alles beim Alten bleiben. „Wir müssen die Förderinstrumente passgenauer auf die Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer und die Verkehrsbedarfe anpassen“, sagt Kluckert. „Mit welchen Maßnahmen bekommen wir mehr E-Autos auf die Straße?“ Ihre Antwort: Die Politik solle sich auf den Nutzer konzentrieren. „Das ist die absolute Basis. Und da geht es natürlich um das Thema Laden.“ Ängste nehmen, etwa über ein flächendeckendes Ladenetz mit diskriminierungsfreiem Zugang und transparenten Preisen. „Es ist schwierig zu vermitteln, dass an der Tankstelle jeder das Gleiche für Benzin und Diesel zahlt – und an der Ladesäule nicht. Hier brauchen wir neue Regelungen.“
VDA setzt weiter auf PHEV und BEV
Bei der Ankündigung neuer Regelungen geht die Industrie meist reflexartig auf Abstand. Auf die Aussage Kluckerts und die von Wissing angestoßene E-Fuel-Debatte geht VDA-Präsidentin Müller in ihrem Konferenz-Vortrag nicht ein, bekräftigt aber die grundsätzliche Richtung, dass sich die deutsche Autoindustrie zu den Pariser Klimazielen bekenne und im Pkw voll auf die Elektromobilität setze. Dass die Elektrifizierung oberste Priorität habe, sehe man an dem aktuell laufendem Umbau der Werke, der aktuellen und angekündigten E-Modellpalette deutscher Hersteller und nicht zuletzt der geplanten Investitionen von 220 Milliarden Euro bis 2026.
Das Ziel, 15 Millionen elektrische Autos bis 2030 zu bauen, hält Müller aus Industrie-Sicht nicht für die große Herausforderung. Die 15 Millionen E-Fahrzeuge – Stand heute – zu verkaufen, aber schon. „Um die ambitionierten Ziele zu erreichen, werden aus unserer Sicht weiter PHEV benötigt. Die Ziele können nur mit den Hybriden erreicht werden, auch in Hinblick auf die derzeit noch mangelnde Infrastruktur. Am Ende müssen die Verbraucherinnen und Verbraucher die Elektromobilität annehmen“, so Müller. Sie ergänzt aber direkt: „Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Ich will in eine Welt, in der vollelektrisch gefahren wird. Aber wir dürfen nicht aus der Sicht des Jahres 2030 argumentieren, sondern mit der Ausgangslage 2022. Und das bedeutet Infrastruktur, Infrastruktur, Infrastruktur.“
Beim Ausbau jener Ladeinfrastruktur will Daniela Kluckert unbedingt die Fehler beim Ausbau der digitalen Infrastruktur vermeiden. Ihr Stichwort sind die Flächen, auf denen die Infrastruktur entstehen soll. Das gilt für das AC-Laden, wo große Stellflächen konsequenter vorbereitet und genutzt werden sollen – und man sich später nicht wundert, warum es in einem Neubau keine Wallboxen gibt. Aber auch das Schnellladen, wo Kluckert auch, aber nicht nur den halböffentlichen Bereich als wichtiges Feld sieht. Auch der Staat sei in der Verantwortung: „Wir müssen die Flächen des Bundes einsetzen, aber auch Länder und Kommunen stärker ansprechen“, sagt Kluckert. „Und das nicht nur direkt vor dem Rathaus, sondern in allen Liegenschaften, die den Kommunen zur Verfügung stehen. Und das sind einige.“
Bidirektionales Laden als Game Changer?
Ansagen, die bei Ladepunktbetreibern sicher gerne gehört werden – schließlich waren fehlende geeignete Flächen bisher ein Argument, weshalb der Ausbau hier und da stockte. Niklas Schirmer, Vice President Strategy der Volkswagen Group Charging GmbH (in Europa als Elli aktiv), mahnt aber noch weitere Punkte an – etwa einfache Genehmigungsverfahren und einfache Zugänge zu dem Stromnetzen.
Und aus seiner Sicht ein großes Brett: „Wie können wir das Elektroauto als Teil der Energiewende machen?“ Schirmer rechnet vor, dass 2020 in Deutschland 6.200 GWh erneuerbare Energie mangels Speicherkapazität nicht genutzt werden konnten – und abgeregelt werden mussten. „Mit dieser Energiemenge hätten 2,6 Millionen Elektroautos ein Jahr lang fahren können“, so Schirmer. Ob aufgrund der lokalen Stromnetze diese Energie auch an deutschlandweit verteilte BEV zur Zwischenspeicherung hätte übertragen werden können, ließ Schirmer offen.
Er spielt auf einen Punkt an, der ebenfalls im Koalitionsvertrag festgehalten ist – das bidirektionale Laden. „Ein smartes, unidirektionales Laden ist der erste Schritt“, so der VW-Manager. „Wenn wir mit bidirektionalem Laden das Auto als Energiespeicher einsetzen können, ist das ein riesiger Schritt. Ein Speicher kann viel, viele Speicher noch viel mehr.“ Schirmer macht aber auch klar, dass VW im bidirektionalen Laden einen Wettbewerbsvorteil sieht: Das Feature könne dazu beitragen, dass die Total Cost of Ownership für das Fahrzeug sinken – und sich so ein Vorteil gegenüber Fahrzeugen ergibt, die das nicht können. „Abgaben, Umlagen und Entgelte kann man gezielt als Booster für die Elektromobilität einsetzen“, sagt Schirmer. „Das ist aber eine Grundsatzentscheidung, die getroffen werden muss.“ Der Ball liegt also wieder bei der Politik.
Große Hoffnungen und Erwartungen an die Ampel
Doch damit dieses Potenzial genutzt werden kann, braucht es nicht nur politische Ziele, sondern auch einen regulatorischen Rahmen. „ Ich bin sehr froh, dass im Koalitionsvertrag viele Punkte angeführt werden, um diese Systemwende einzuläuten“, sagt der VW-Manager. Er weist aber auch auf die Lage der Auto- und Energiebranche hin: „ Beide Sektoren, die jeder für sich in einer Transformation stecken, müssen jetzt verbunden werden. Das ist eine herausragende Aufgabe.“
Müller und Schirmer sind mit Wünschen an die neue Regierung nicht alleine. Christian Hochfeld, Direktor Agora Verkehrswende, fordert von dem Kabinett von Kanzler Olaf Scholz endlich ein Gesamtkonzept, wie der Verkehrssektor die Klimaziele erreichen kann und mit welchen politischen Maßnahmen das umgesetzt werden soll. „In den vergangenen vier Jahren hat die alte Regierung zu keinem Zeitpunkt gezeigt, wie die Ziele erreicht werden sollen“, sagt Hochfeld.
Er verweist auf mehrere große Studien, etwa vom BDI und der Dena, die zur Dekarbonisierung des Verkehrssektors vorgelegt wurden. „Es liegen die Konzepte auf dem Tisch, wie wir bis 2045 klimaneutral sein können“, so Hochfeld. „Dementsprechend gilt es, keine Zeit mehr zu verlieren. Wir müssen in dieser Legislaturperiode endlich die richtigen Regler an die Verkehrswende bekommen.“
Der Start war für ihn durchwachsen. Damit spielt er nicht nur auf die E-Fuel-Diskussion an, sondern auch auf das von Verkehrsminister Wissing abgelehnte Tempolimit. „Wenn man Instrumente, die schnell wirken könnten – wie etwa ein Tempolimit, dass auf einen Schlag zwei Millionen Tonnen CO2 einsparen könnte –, von Anfang an ausschließt, muss man sich bewusst sein, dass man an anderer Stelle mehr machen muss“, sagt der Agora-Direktor. Seine Rechnung: Das fehlende Tempolimit entspräche rund einer Million Elektroautos, die man zusätzlich betötige, um den CO2-Effekt zu kompensieren.
Statt eines starren Tempolimits hatte sich Wissing für moderne, dynamische Lösungen ausgesprochen – und vor allem digitale. Auch seine Staatssekretärin Kluckert plädiert dafür, „die Möglichkeiten der Digitalisierung konsequent“ zu nutzen.
Digitalisierung im Verkehr – ein Praxisbeispiel zeigt die komplexe Lage
Ein praktisches Beispiel dieser Digitalisierung wird bei der Online-Konferenz im Anschluss an die Vorträge in der Panel-Diskussion ausführlich debattiert: die Förderung der Plug-in-Hybride. Nicht beim Umweltbonus – hier gibt sich VDA-Geschäftsführer Joachim Damasky optimistisch, dass zahlreiche Modelle die neue elektrische Mindest-Reichweite von 80 Kilometern erfüllen werden – sondern die Umsetzung der Dienstwagensteuer. Zur Erinnerung die Zielsetzung aus dem Koalitionsvertrag: PHEV sollen nur noch dann „privilegiert“ werden (Stichwort 0,5 statt 1 Prozent), wenn sie zu mehr als 50 Prozent elektrisch fahren. Ist das nicht der Fall, greift die Regelbesteuerung von einem Prozent.
Wie aber eine solche Regelung umsetzen? Damasky verweist auf die das OBFCM (On-Board Fuel Consumption Monitoring), über das moderne Autos verfügen – mit den Fahr- und Verbrauchsdaten wäre es technisch möglich, den Nachweis zu erbringen. „Das klingt aber einfacher, als es in der Praxis ist“, schiebt Damasky hinterher. Im OBMFC werden nur die Gesamtdaten seit der Produktion des Fahrzeugs hinterlegt, aber nicht in der für die Steuer relevanten Abrechnungsperiode. Viele Autos verfügen über eine Mobilfunk-Schnittstelle, mit der die Daten „over the air“ ausgelesen werden könnten – aber eben nicht alle, andere müssten in die Werkstatt oder zum TÜV, um die Daten per Kabel über die OBD-Buchse auszulesen. „Und auch der gesetzliche Zugriff auf diese Daten ist noch gar nicht geregelt“, sagt Damasky.
Dem pflichtet auch Johannes Wieczorek, Leiter der Unterabteilung G2 „Klimaschutz in der Mobilität, Umweltschutz“ im BMDV, bei. „Das Ziel muss sein, dass demjenigen, der in den kommenden Jahren einen Plug-in-Hybrid erwirbt, klar ist, dass er nicht mehr mit dem originalverpackten Ladekabel im Kofferraum durch die Gegend fahren kann“, sagt Wieczorek. „Technisch ist das nicht das Problem, der Datenschutz wird uns bei der Ausgestaltung deutlich länger beschäftigen.“
„Die Daten sprechen gegen eine weitere Förderung von Plug-in-Hybriden“
Die Plug-in-Hybride beschäftigen das BMDV zwar, aber der Blick geht nach vorne. „Natürlich ist der Schwerpunkt Batterie-elektrisch“, sagt Wieczorek. „Das Ziel der 15 Millionen Elektrofahrzeuge steht ganz weit oben. Es wird in den kommenden Monaten sicher die ein oder andere Anpassung an Förderprogrammen geben, um dieses Ziel zu unterstützen.“
Auch Agora-Vordenker Hochfeld hält für die von ihm geforderte „Fairkehrswende“ weitere Förderungen für angebracht. „Das wird nicht nur über Kaufzuschüsse gehen, sondern auch über den Umbau der Kfz-Steuer zu einem Bonus-Malus-System und eine Reform der Energiesteuern“, sagt Hochfeld mit Blick auf die derzeitigen Strom- und Ladepreise. Bei der Förderung der Plug-in-Hybride verweist auch er etwa auf die ICCT-Studie von 2020, die je nach Dienst- oder Privatauto nur elektrische Fahranteile von zehn bis 40 Prozent angibt. „Wir haben hier aber wenige Daten“, so Hochfeld. „Aber die Daten, die vorliegen, sprechen gegen eine weitere Förderung von Plug-in-Hybriden.“
Über das Bonus-Malus-System möchte er darauf hinarbeiten, dass die Förderungen fair verteilt werden, „um auch die Mobilität niedriger Einkommensklassen sicherzustellen“. Konkretere Vorschläge will Agora Verkehrswende im März vorstellen. Die Lage ist für Hochfeld klar: „Wir haben in dieser Legislaturperiode die Chancen, Maßnahmen einzuleiten, um die Klimaziele im Verkehr bis 2030 zu schaffen. Wenn wir diese Chance nicht nutzen, können wir die Ziele gleich abschreiben.“
Der politische Ausblick auf das Elektromobilitäts-Jahr 2022 war nur ein Teil der 16. Ausgabe von „electrive.net LIVE“. In den kommenden Tagen erscheint unser Konferenzbericht zum zweiten Panel – wie der Ausbau der Ladeinfrastruktur 2022 weiter voran kommt und wo Staat und Industrie noch Handlungsbedarf sehen. Auch eine Video-Dokumentation folgt.
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