Kia EV6 GT: Unterwegs im koreanischen Taycan
Mit 430 kW Systemleistung spielt der Kia EV6 GT in einer ganz anderen Liga, als man Kia noch vor einigen Jahren zugetraut hätte. Statt mit Seat oder Skoda misst sich der stärkste Ableger des EV6 auf dem Papier eher mit Porsche, um im VW-Konzern zu bleiben. Hält der Vergleich aber auch in der Praxis stand?
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Eigentlich sollte es dieses Auto gar nicht geben. Während Audi etwa bei der Entwicklung des e-tron direkt mit der dreimotorigen Variante e-tron S angefangen und später davon die normalen Allrad-Versionen mit zwei Elektromotoren abgeleitet hat, stand der EV6 GT bei Kia anfangs gar nicht im Lastenheft. Überhaupt war bei der Entwicklung der Elektro-Plattform E-GMP kein so starkes Modell geplant, wie Albert Biermann, bis Ende 2021 Entwicklungschef von Hyundai-Kia, berichtet.
Eines Tages sei der Chairman zu ihm gekommen und habe gefragt, ob man denn „den amerikanischen EVs“ etwas entgegensetzen könne, erzählt der Ex-BMW-Entwickler, der inzwischen nach Deutschland zurückgekehrt ist und als Technical Advisor das europäische Entwicklungszentrum von Hyundai-Kia in Rüsselsheim berät. Ob der Chairman gerade ein Konkurrenzmodell Probe gefahren ist oder eines der unzähligen Videos im Internet gesehen hat, bei dem ein Tesla teure Sportwagen locker ausbeschleunigt, gibt Biermann nicht an. Wohl aber, wie das Treffen mit dem Chairman weiterging: Er bat um Bedenkzeit und trommelte seine leitenden Ingenieure zusammen. Mehrere Stunden berieten sie, entwarfen Konzepte, stellten erste Berechnungen an.
Nur einen Tag später konnte Biermann seinem Vorgesetzten antworten – mit dem erhofften Inhalt: „Wir schaffen das.“ Sogar mit relativ geringen konstruktiven Änderungen.
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Das Ergebnis führte Kia stolz bei der Weltpremiere des EV6 vor: In einem Beschleunigungsrennen aus dem Stand konnte der Prototyp des EV6 GT Fahrzeuge wie einen Lamborghini Urus, Ferrari California T, Mercedes-AMG GT und Porsche 911 Targa 4 hinter sich lassen. Dass der Wagen sich dem McLaren 570S geschlagen geben musste und es sich jeweils nicht um die stärksten Modelle der Hersteller gehandelt hatte, dürfte dem Chairman recht egal gewesen sein. Alleine nur mit diesen Marken in einer Liste genannt zu werden und europäische Sportwagen mit weit sechsstelligen Preisen in einem Kia zu schlagen, das war Triumph genug.
Ende des Jahres soll das Fahrzeug für 65.990 Euro auf den Markt kommen – mit 430 kW und eben der Fähigkeit, an der Ampel einen Porsche oder Ferrari zu ärgern. Doch wie haben Biermann und seine Entwickler es geschafft, aus einem Auto, dass es als Basismodell nach Abzug der Förderung ab rund 36.000 Euro zu kaufen gibt, einen Porsche-Schreck zu machen?
In 3,5 Sekunden auf 100 km/h – in einem Kia
Hinters Steuer des EV6 GT dürften wir noch nicht – es gibt zu wenige Vorserienfahrzeuge in Europa, daher muss derzeit noch der Beifahrersitz reichen. Aber auch hier fallen die gut sitzenden, aber immer noch bequemen Schalensitze auf. Um den Charakter eines Gran Turismo zu erhalten, war noch ein hohes Maß an Langstrecken-Komfort wichtig. Schließlich soll der EV6 GT nicht Hobby-Rennfahrer für Trackdays ansprechen, sondern eine gut Betuchte Kundschaft, die viel und zügig unterwegs ist. Die Relax-Sitze gibt es im GT zwar nicht, weil man sich dann doch für etwas mehr Seitenhalt entschieden hat. Der Alltagsnutzen stand übrigens auch bei der Rückbank im Vordergrund: Hier hat sich Kia gegen gut ausgeformte Einzelsitze entschieden. Die Polster sind recht flach, da die Lehnen der Rücksitze immer noch umgeklappt werden können.
Am Steuer sitzt ein Test- und Entwicklungsfahrer, was bei der folgenden Demonstration auch besser ist. Dabei geht es nicht unbedingt um die Beschleunigung, sondern auch das, was mit dem EV6 GT in den Kurven möglich ist – gleich dazu mehr.
Dass der mattgraue Prototyp mächtig nach vorne geht, ist nicht nur nach dem Video des Viertel-Meilen-Sprints klar, sondern auch beim Blick auf die Daten: Für den Spurt auf 100 km/h gibt Kia 3,5 Sekunden an. Schluss ist erst bei 260 km/h. Diese Tempo haben wir bei der Mitfahrt zwar nicht erreicht, aber wir können sagen, dass ungefähr ab Tempo 180 die Beschleunigung langsam nachlässt. Der EV6 GT dürfte aber immer noch schneller auf 200 sein als das 58-kWh-Basismodell mit 125 kW auf 100 km/h ist (8,5 Sekunden).
Das Besondere dabei: „Im Kern ist der hintere Motor des GT mit den anderen Varianten gleich“, sagt Biermann. Mit der 77,4 kWh großen Batterie, die auch im EV6 GT verbaut ist, liegt die Leistung bei 160 kW – egal ob im Hecktriebler oder dem Allrad-Modell. Rotor und Stator wurden dabei 1:1 übernommen. Die einzige echte konstruktive Änderung: Im EV6 GT nutzt der hintere Elektromotor zwei Inverter.
Jeder Inverter gibt seinen Drei-Phasen-Strom also nur auf die Hälfte der Hairpin-Wicklungen ab. Somit waren nur Änderungen in der Peripherie und der Software zur Ansteuerung des Motors nötig. Eine teure Neuentwicklung konnte sich Kia sparen – und dennoch 270 statt 160 kW erreichen. Alleine ist Kia mit dieser technischen Lösung übrigens nicht: Mercedes setzt beim EQS an der Hinterachse ein ganz ähnliches Konzept ein, welches die Stuttgarter als „Sechs-Phasen-Motor“ bezeichnen.
Dazu kommt noch ein stärkerer Motor an der Vorderachse. Statt 79 kW im zivilen Allrad-Modell leistet die zweite PSM im GT 160 kW. Das ging aber ohne Änderungen, da die Antriebseinheit von Anfang an auf diese Leistung ausgelegt war. Auch im Schwestermodell Genesis GV60 kommt das Top-Modell auf 160 kW an der Vorderachse. Im Unterschied zum EV6 GT muss der Genesis aber vorerst mit dem Drei-Phasen-Motor an der Hinterachse Vorlieb nehmen. Macht in der Summe „nur“ 320 statt 430 kW.
Bremsen auf Sportwagen-Niveau
Da es beim Akku im Vergleich zu den anderen EV6-Derivaten keine Änderungen gibt, bleibt auch die Ladezeit gleich: Mit bis zu 240 kW in der Spitze kann der GT in 18 Minuten von zehn auf 80 Prozent laden. Um die optimale Ladekurve auch bei widrigen Bedingungen zu erreichen, wird auch der Kia über die angekündigte Batterie-Vorkonditionierung verfügen. AC-seitig bleibt es bei 11 kW, also einer Ladezeit von 7:20 Stunden auf 100 Prozent.
Eine weitere Änderung verbirgt sich hinter den ebenfalls neuen 21-Zoll-Felgen: Die Bremsscheiben der Performance-Bremse messen 380 Millimeter im Durchmesser, die Bremssättel sind in einem auffälligen Neongelb lackiert. Den genauen Bremsweg verraten zwar weder der Testfahrer noch Albert Biermann, für ein Auto mit etwas über zwei Tonnen Leergewicht ist die Verzögerung mehr als ausreichend – vermutlich auch für die Rennstrecke, im Alltag aber allemal.
Für den Alltag beinahe übertrieben sind die Fähigkeiten bei der Querdynamik. Schnelle Kurven nimmt der EV6 GT mit einer minimalen Querneigung und hoher Stabilität, dennoch sind extrem schnelle Spurwechsel möglich, ohne dass der Wagen ausbricht. Stabil und agil zugleich. Möglich ist das durch eine Reihe von Änderungen, wie Biermann erklärt. Natürlich helfen die breiten Niederquerschnittsreifen, neue untere Querlenker an der Vorderachse und die adaptiven Dämpfer des Fahrwerks. Und natürlich der niedrige Schwerpunkt des Autos dank der Batterie, wie der frühere Chefentwickler anmerkt.
Einstellbare Dämpfer sollten auch in anderen E-GMP-Modellen kommen
Besonders die einstellbaren Dämpfer wären auch (als Option) für die anderen E-GMP-Modelle empfehlenswert: Im „Normal“- oder „Eco“-Modus rollt der Prototyp trotz der 21-Zöller recht komfortabel ab. Es ist zwar gefühlt etwas lauter im Innenraum, das dürfte aber auf die großen Felgen und Sportreifen zurückzuführen sein. Der Komfort ist aber vergleichbar mit den zivilen Modellen. Im „Sport“- oder dem speziellen „GT“-Modus (letzterer wird über eine eigene, gelb-eloxierte Taste am Lenkrad aktiviert) wird das Fahrwerk spürbar straffer und gibt dem Fahrer mehr Rückmeldung. In den normalen Modellen könnte man den Einstellbereich der Dämpfer etwas in Richtung Komfort verschieben. In der Preisklasse, in der sich ein gut ausgestatteter EV6 AWD bewegt, wäre ein solches Feature zumindest als aufpreispflichtiges Extra angemessen.
Abgesehen von den Sportsitzen vorne und der erwähnten „GT“-Taste am Lenkrad sind die Änderungen im Innenraum rein kosmetischer Natur. Die üppigen Platzverhältnisse auf der Rückbank entsprechen den bekannten EV6-Versionen. Auch der Kofferraum bleibt mit 490 Litern bis maximal 1.300 Liter bei umgeklappten Rücksitzlehnen gleich. Während man mit den Konkurrenz-Modellen aus dem Drag Race eher nicht zum Großeinkauf fährt, ist das mit dem EV6 GT problemlos möglich.
Diese Bandbreite vom sportlichen Fahrverhalten und der extremen Beschleunigung bis hin zum Langstrecken-Komfort und Alltagsnutzen ist genau das Konzept, das Marken wie Porsche in den vergangenen Jahren so erfolgreich gemacht hat – und was die Zuffenhausener mit dem Taycan uns seinen Ablegern Cross Turismo und Sport Turismo auch in die Elektromobilität gebracht haben.
Von den Unterschieden in der Wahrnehmung der Marke und dem ein oder anderen Detail im Innenraum müssen wir an dieser Stelle nicht reden und wir wollen einen EV6 auch nicht direkt mit einem Porsche vergleichen. Nach der Mitfahrt auf dem Beifahrersitz wird aber klar, dass der EV6 GT für Kia Ähnliches leisten kann wie der Taycan für Porsche: Zu zeigen, dass ein gutes und sportliches Alltagsauto sehr wohl auch elektrisch sein kann.
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