Fahrbericht: Unterwegs im Kia EV6 auf der Langstrecke
Der Kia EV6 ist auf dem Papier eines der langstreckentauglichsten Elektroautos. Der Verbrauch liegt noch im Rahmen, die Ladeleistung ist top. Doch kann der 800-Volt-Stromer aus Südkorea auch auf der Straße seinem Ruf gerecht werden? Wir haben es auf über 1.000 Kilometern ausprobiert.
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Das Ergebnis der dritten Auflage vom P3 Charging Index: Nicht mehr eines der deutschen Premium-Modelle ist das langstreckentauglichste Elektroauto, sondern der Kia EV6. Mit einem Indexwert von 1,03 kommt der 800-Volt-Stromer aus Südkorea als erstes Fahrzeug überhaupt auf einen Charging Index, der größer als 1 ist.
Zur Erklärung: Das von P3 definierte Ideal für die Autobahn wäre, elektrische Energie für 300 Kilometer (km) Reichweite in 20 Minuten zu laden – der P3 Charging Index setzt also den Verbrauch mit der realen Ladefähigkeit in Relation. Ein Elektroauto, das diese Vorgabe erreicht, würde von P3 mit einem Charging Index von 1 bewertet werden. Der EV6 schafft sogar minimal mehr.
Ein Langstreckentest sollte die Fähigkeiten des EV6 genauer aufzeigen und auch, wo der südkoreanische Autobauer noch nachlegen muss. Zum Test stand mit der Heckantriebsvariante als GT-Line und 77,4-kWh-Akku der reichweitenstärkste EV6 zur Verfügung – allerdings mit 20-Zoll-Felgen. Die Aerodynamik und der Verbrauch sind mit den 19-Zöllern minimal besser.
An dieser Stelle noch einmal kurz die technischen Daten: Angetrieben wird die RWD-Variante von einem 168 kW starken E-Motor an der Hinterachse mit einem maximalen Drehmoment von 350 Nm. Innerhalb von 7,3 Sekunden beschleunigt der Stromer von 0 auf 100 km/h. Schluss ist bei 185 km/h. Die nötige Energie liefert ein Akku mit einem nutzbaren Energiegehalt von 77,4 kWh. Dieser war bislang somit größer als beim Hyundai Ioniq 5 (72,6 kWh), der nun aber auch den gleichen Akku wie der EV6 erhält.
Ist der Speicher leer, kann er an einer AC-Ladesäule mit dem 11-kW-Onboard-Lader innerhalb von 7:20 Stunden von zehn auf 100 Prozent geladen werden. Deutlich schneller geht es mit Gleichstrom: An einem entsprechenden High Power Charger benötigt ein Ladevorgang von zehn auf 80 Prozent gerade einmal 18 Minuten.
Den Verbrauch geben die Südkoreaner beim RWD mit 16,5 kWh/100km (19-Zoll-Felgen) bzw. 17,2 kWh/100km (20-Zoll-Felgen) an. Die Reichweiten nach WLTP liegen bei 528 bzw. 504 Kilometern. Zum Vergleich: Die Allradvariante kommt analog auf einen Verbrauch von 17,2 kWh/100km bzw. 18 kWh/100km. Bei den Reichweiten nennt Kia Werte von 506 bzw. 484 Kilometern.
„Bis zu 240 kW, Strom für 100 Kilometer in 4,5 Minuten oder von 10 auf 80 Prozent in 18 Minuten – und das bei einer 77,4 kWh großen Batterie. Egal welchen Aspekt man beim EV6 rund um das Schnellladen aufgreift, die Zahlen auf dem Papier sind beeindruckend“, schrieb mein Kollege Sebastian Schaal in seinem ersten Eindruck zum Fahrzeug. Was bedeutet das in der Praxis?
Langstreckenfahrt bei nahezu optimalen Bedingungen
An einem Freitagnachmittag ging es von Hamburg an den Laacher See bei Neuwied. Bei sonnigem Wetter, leichten Wind und Außentemperaturen von 18 bis 24 Grad waren die Rahmenbedingungen durchaus gut.
Mit einem State of Charge (SoC) von 96 Prozent ging es los. Als erster Ladestopp war der EnBW-Ladepark am Kamener Kreuz eingeplant. Trotz Feierabendverkehr und Ferienzeit, konnte die Fahrt ohne nennenswerte Verzögerungen – Baustellen und sonstige Geschwindigkeitsbegrenzungen ausgenommen – absolviert werden. So kamen wir nach 3:11 Stunden am Zwischenziel mit einem SoC von 16 Prozent an. Nach 310,4 Kilometern zeigte der Bordcomputer einen Verbrauch von 19,1 kWh/100km an- wohlgemerkt bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 97,5 km/h.
Schon im Vorfeld war uns bewusst, dass der Ladestopp länger ausfallen würde als das Auto lädt. Die menschlichen Bedürfnisse lassen grüßen. Für die Akten sei aber dennoch – zur Ladekurven-Thematik kommen wir noch – der Wert von 17,5 Minuten für den Ladevorgang von 20 auf 80 Prozent genannt.
Nach rund 45 Minuten ging die Fahrt an den Laacher See weiter. In der Zeit war der Kia EV6 längst auf 100 Prozent aufgeladen. Weil der Verbrauch auf dem letzten Abschnitt eher unwichtig wurde, wurde die Strecke (wo möglich) mit 140 bis 150 km/h gefahren. Am Ziel angekommen, zeigte der Bordcomputer nach 4:57 Stunden 486,3 zurückgelegte Kilometer an. Der Verbrauch stieg auf 20 kWh/100km, die Durchschnittsgeschwindigkeit auf 98,2 km/h.
Vor Ort selbst gab es keine Lademöglichkeit. Für die Fahrten vor Ort aber kein Problem. Der SoC von 52 Prozent reichte vollkommen aus – auch für einen Teil der Rückfahrt. Auf dieser, das Wetter und die Temperaturen waren wie auf der Hinfahrt, war ein Ladestopp am Ionity-Standort nur wenige Kilometer entfernt geplant. Der Reiseverkehr an diesem Sonntag war jedoch hoch und bis auf eine Ladesäule alles belegt. Der Ladevorgang ließ sich aus unerfindlichen Gründen nicht starten. Weil bereits die nächsten warteten und es kein notwendiger Ladestopp war, ging die Reise also weiter. Zwischendurch wurde stattdessen für wenige Minuten an einer Allego-Ladesäule gehalten. Nachdem genug Saft für die Fahrt zum Zwischenziel EnBW-Ladepark Kamener Kreuz im Akku war, konnte es weitergehen.
Wie auf der Hinfahrt auch, war erneut eine längere Pause vorgesehen. Mit acht Prozent SoC startete ich den Ladevorgang. Nach der Auswertung zeigte sich jedoch, dass die Ankunft mit niedrigerem SoC als bei der Hinfahrt keine positive Auswirkung auf die Ladezeit hatte. Von 20 auf 80 Prozent dauerte dieser nun 19,5 Minuten. Von zehn auf 80 Prozent waren es sogar 21,5 Minuten – 3,5 Minuten länger als die von Kia angegebene optimale Ladezeit.
Mit vollem Akku ging die Reise nach rund 45 Minuten weiter – auch hier waren menschliche Bedürfnisse der zeitraubende Faktor. Nach 317,9 km, kleinen Verzögerungen in den Baustellen und längeren Stau in Hamburg, lag daher die Durchschnittsgeschwindigkeit bei nur 84,4 km/h (3:46 Stunden). Als Verbrauch zeigte der Bordcomputer 18,7 kWh/100km an.
Für die gesamte Strecke von rund 1.057 km, für die 12:47 Stunden benötigt wurde, lag der Durchschnittsverbrauch bei respektablen 18,8 kWh/100km. Um auf dieser Strecke eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 82,7 km/h zu erreichen, der muss wo möglich auch mindestens im Bereich der Autobahn-Richtgeschwindigkeit – bei rund 130 km/h fühlt sich der Kia besonders wohl – und teils sogar schneller reisen.
In der Praxis ergeben sich in meinem Fall somit Autobahnreichweiten von 300 bis 350 Kilometer.
Optimale Ladekurve nur schwer zu erreichen
Wie sich anhand der Ladeerfahrungen während dieses Trips zeigte, ist es nicht so leicht, die Batterie auf die optimale Temperatur zu bringen und so die Ladezeit von 18 Minuten (zehn auf 80 Prozent) einhalten zu können. Selbst ein weiterer Test (blaue Ladekurve) bei Ionity brachte keinen Erfolg. Obwohl das Fahrzeug warm gefahren und der Ladevorgang mit einem SoC von deutlich unter zehn Prozent gestartet wurde, ergab sich sogar eine Ladezeit von 21 Minuten von 20 auf 80 Prozent.
Damit war dieser sogar länger als die beiden oben genannten Ladevorgänge. Diese benötigten analog 17,5 Minuten auf dem Hinweg und 19,5 Minuten auf dem Rückweg. Nicht nur unsere Aufzeichnungen sind sehr unterschiedlich ausgefallen, auch Fastned machte diese Erfahrungen und veröffentlichte entsprechende Ladekurven. „Ein weiterer Faktor, der großen Einfluss auf die Ladegeschwindigkeit hat, ist die jeweilige Akku-Temperatur“, heißt es bei Fastned. Genau das ist ein Problem, welches wir durch Tests mit dem EV6 und Ioniq 5 feststellen konnten. Die E-GMP-Modelle der Südkoreaner können den Akku noch nicht entsprechend temperieren.
Im Sommer hat die fehlende Vorkonditionierung keine allzu große Auswirkung. Sicher mögen die Zeitdifferenzen zur Werksangabe auf dem Papier erst einmal groß erscheinen. Doch in der Praxis – so in unserem Test – fielen die wenigen Minuten mehr aufgrund der ohnehin länger dauernden Pausen nicht ins Gewicht. Im Winter sieht dies aber wieder anders aus, wenn zu kalte Temperaturen den Ladevorgang entsprechend verlängern.
Abhilfe soll jedoch ein Update für den Kia EV6 schaffen, das aber noch auf sich warten lässt.
Routenplanung ohne Ladestopps
Ein weiteres Feature, welches erst mit einem Update kommen soll, ist die Routenplanung mit Ladestopps. In den Einstellungen lässt sich zwar nach Lade-Vorschlägen entlang der Route filtern und dabei selbst einzelne Betreiber auswählen. Doch die Ergebnisse sind sehr ernüchternd und so wird auch schnell eine AC-Ladesäule um die Ecke vorgeschlagen. Fazit: Unbrauchbar. Die Ladeplanung gibt es bei Kia derzeit daher nur in der App. Genutzt haben wir im Test daher andere Apps, da der Testwagen aus technischen Gründen nicht mit der Kia-App verknüpft werden konnte. Wie die elektrische Urlaubsfahrt ohne High-Tech-Navi gelingen kann, haben wir an dieser Stelle für Sie zusammengetragen.
Doch angesichts der Ladeleistung den EV6 als Schnelllade-Auto ausschließlich für Langstreckenfahrer abzustempeln, wird Kias erstem E-GMP-Modell nicht gerecht. Die Qualitäten gehen weit über die Ladeleistung hinaus. Zahlreiche Assistenzsysteme und Komfort-Features, die die Fahrt angenehmer und sicherer machen, gibt es nämlich bereits im Basismodell. Die Assistenten arbeiten recht zuverlässig, wie Sebastian Schaal bereits bei der ersten Ausfahrt ausführlich beschrieb. Einzig sollte man sich auf die Schildererkennung nicht verlassen. Nervig ist darüber hinaus die Piepserei.
Ansonsten muss noch erwähnt werden, dass sich der Kia EV6 als sehr komfortables Langstreckenfahrzeug offenbarte. Die Sitze sind sehr bequem und schnell kommt Wohnzimmer-Feeling auf. Als Fahrer fühlte ich mich sehr wohl und längere Strecken waren kein Problem für mich. Hinten hat man übrigens auch ausreichend Platz. Nach oben und auch vorne (Kniefreiheit). Allerdings sind die Beine aufgrund der Batterie recht stark angewinkelt. Vor allem bei großen Menschen.
Fazit
Der Kia EV6 ist ein langstreckenfähiges Elektroauto und die Bewertung aus dem P3 Charging Index kann soweit durchaus bestätigt werden. Obwohl die optimale Ladekurve nur schwer zu erreichen ist, steht der Kia bei der Ladezeit und den damit möglichen Kilometern zurecht ganz oben auf dem Podium.
All das hat allerdings auch seinen Preis: Der EV6 mit 168 kW (RWD) und 77,4-kWh-Akku startet zu einem Brutto-Listenpreis von 50.990 Euro und als GT-Line bei 56.990 Euro. Da beim EV6 nur das Basismodell (58 kWh, 125 kW Motor, 46.990 Euro) beim BAFA für den Umweltbonus gemeldet und auf der Liste der förderfähigen Fahrzeuge geführt wird, erhalten bis Jahresende alle Antriebsvarianten den vollen Umweltbonus.
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