Kia Niro EV: Fortschritt trotz ähnlicher Technik?

Bild: Sebastian Schaal

Der neue Kia Niro EV bleibt sich treu: Er ist konventionell, durchdacht und praktisch. Einen technischen Vorsprung gegenüber dem Vorgänger gibt es dagegen nicht. Reicht das, um den Preis zu rechtfertigen?

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Beim VW Golf hat sich niemand beklagt: Die dritte Generation, die 1991 vorgestellt wurde, war optisch völlig neu. Unten drunter aber war der Golf III trotz VR6 und TDI eher ein großes technisches Facelift. Hat keiner gemerkt.

Über 30 Jahre später konkurriert der Kia Niro EV in der Kompaktklasse mit dem Volkswagen ID.3. Der Kia, so behaupten Kritiker, wäre zu wenig innovativ und nur nach der Papierform ein modernes Elektroauto. Wir können bestätigen: Ja, der Niro EV ist keine Revolution. Und nein, das ist kein Problem, weil der Kia einfach einen guten Job im Alltag macht. Ein Minuspunkt ist vielmehr der Preis. Bei 47.590 Euro geht es los.

Seien wir realistisch: Nicht jeder will mit seinem Elektroauto auffallen. Ein Tesla ist immer noch ein Statement in der Vorstadtsiedlung. Der Kia Niro ist das Gegenteil davon: Die Mischung aus Kompaktwagen, auf 1,56 Meter hochgelegtem Kombi und Radlaufblenden wirkt beliebig. Genau das macht ihn für viele Kunden sympathisch. Er ist ein Elektroauto zum Leben – und zwar zum bequemen Leben.

Größeres Raumangebot

Dass der Fahrersitz beim Einsteigen zurückgefahren ist und nach dem Platznehmen automatisch nach vorne fährt, steht symbolisch für den Komfort und die Convenience. Braucht keiner. Genau wie die elektrische Kofferraumklappe. Ist trotzdem nett. Man sitzt aufrecht, aber nicht so weit oben wie in einem echten SUV. Das Raumangebot ist größer geworden. Die Außenlänge beträgt jetzt 4,42 Meter (alt: 4,35 m) und die Breite 1,83 Meter (1,81 m). Die Innenraumgestaltung ist sachlicher als zuvor, und der sanfte Schwung der Cockpitdisplays erinnert entfernt an den BMW i4. Die Unterschiede zum Vorgänger sind allerdings nicht radikal. Warum auch? Wer mal ein Elektroauto der Hyundai Motor Group gefahren ist, findet sich sofort zurecht.

Ein typisches Feature etwa ist die Einstellung der Rekuperationsstufen über Lenkradwippen: Der Fahrer hat bei der Bremsverzögerung die manuelle Wahl vom nahezu widerstandslosen Gleiten bis hin zur deutlichen Verzögerung. Oder er überlässt der automatischen Einstellung – zum Aktivieren bitte beide Wippen gleichzeitig ziehen – die Verzögerung. Das funktioniert gut, auch wenn Mercedes inzwischen beweist, wie es noch intuitiver und perfekter geht.

Die Lenkung ist wie gehabt leichtgängig, hat aber keine ausgeprägte Rückmeldung. No sports, bitte. Auch die Wankneigung in Kurven unterstreicht den Anspruch, hier ein Alltagsauto zu haben, das einfach nur sicher und simpel fahren soll. Keine Experimente.

Stromversorger

Zurück zu den Details: Kia hat den Niro EV mit diversen Ladeausgängen ausgestattet. Die Liste ist lang. In der Mittelkonsole gibt es mehrere USB-Anschlüsse. An der Rückenlehne der Vordersitze sind ebenfalls welche eingebaut. Hier können zum Beispiel die Tablets angeschlossen werden, die bei skandinavischen Familien ganz selbstverständlich für die Unterhaltung der Kinder auf den Rücksitzen (hier können auch Große gut Zeit verbringen) sorgen. In der Mitte der Rücksitzbank ist eine 220 Volt-Steckdose eingebaut.

Der eigentliche Clou aber ist V2D. „Vehicle-to-device“, so nennt Kia die Möglichkeit, an der Ladebuchse vorne (Nasenlader!) Strom zu ziehen. Über den serienmäßigen Adapter können bis zu drei Kilowatt Leistung abgegeben werden. Das sucht man bei Volkswagen ID.3 oder Renault Megane vergebens.

Ladleistung niedrig – Stromverbrauch auch

So nett es ist, dass etwas aus dem Niro EV herauskommt, so dürftig ist nach heutigen Maßstäben, was hineingeht: Um an einer Gleichstromsäule (DC) von zehn auf 80 Prozent zu laden, vergehen 45 Minuten. Die durchschnittliche C-Rate beträgt also nur knapp 1 und die Peak-Leistung laut Fastned 82 kW (AC-seitig: serienmäßig elf kW).

Im Vergleich zu anderen Elektroautos in diesem Segment ist das müde, und zieht man den Kia EV6 heran, kommt man schon ins Nachdenken: Der EV6 ist ab 46.990 Euro zu haben. Er ist dann schlechter ausgestattet und hat lediglich einen Energieinhalt von 58 statt der 64,8 kWh des Niro. Aber alle wissen, wie schnell der EV6 laden kann, nämlich in dieser Konfiguration mit bis zu 175 kW.

Auf der Habenseite steht der günstige Stromverbrauch des Niro EV. Bei uns waren es im Durchschnitt 17,7 kWh/100 km. Auf der Autobahn bei Richtgeschwindigkeit zeigte der Bordcomputer 23,4 kWh/100 km an. Im fließenden Stadtverkehr waren es minimal 11,7 kWh. Und auf einer Überlandtour lag der Verbrauch bei 15,8 kWh/100 km. Der Niro EV ist sparsam, wenn auch kein Rekordmeister wie etwa der Hyundai Ur-Ioniq; um dessen Werte zu erzielen, müsste er eine kleinere Stirnfläche für eine bessere Aerodynamik haben.

In Reichweite übersetzt sind das im Mittel also 366 Kilometer, und die Spanne reicht von minimal 277 bis zu 554 Kilometern unter optimalen Bedingungen. Die Reise ist dabei stets angenehm. Lange Strecken sind auch mit der überschaubaren Ladeleistung machbar. Nur Geduld sollte man mitbringen. Die brauchen auch die anderen Elektroautofahrer, die beim Queuing nervös auf die Anzeige der Säule starren und hoffen, dass man bald Platz macht.

Solide statt aufregend

Das ändert nichts am positiven Gesamteindruck, den der Kia Niro EV hinterlässt. Er ist ein solides und erwachsenes Angebot. Der Kia setzt nicht auf Effekthascherei, sondern auf die Lebenspraxis, und die macht er gut. Er ist sparsam und durchdacht. Dass die Ladeleistung nicht hoch ist, sollten potenzielle Käufer wissen – der Niro EV passt darum nicht zu jedem Fahrprofil.

Nur preisgünstig ist er nicht. Der Markt ist zurzeit verzerrt: Im Kompaktsegment sind die billigen Basisversionen von Volkswagen ID.3 und Renault Megane nicht oder kaum zu finden. Kia tut gar nicht erst so, als würde es ein Sonderangebot in Grundausstattung geben und bietet – anders als beim Niro HEV und PHEV – gar keine Einstiegsvarianten an. Top oder hop. Wahrscheinlich ist das immer noch das Resultat der Halbleiterkrise: Die Chips, die wir haben, verbauen wir in den profitstarken Elektroautos mit Höchstausstattung. Das ist das aktuelle Motto bei fast allen Herstellern.

Dazu kommt, dass auch die Zellen für die Traktionsbatterien stark nachgefragt sind. Vermutlich wird die schwächelnde Weltkonjunktur das in den nächsten zwei Jahren ändern. Stand heute aber müssen die Kunden beim Kia Niro und den Wettbewerbern entweder in den sauren Apfel beißen und zahlen oder ganz verzichten. Immerhin: Sämtliche Niro EV erfüllen die Voraussetzungen für die auf ein Viertel des üblichen Prozents reduzierte Dienstwagensteuer. Wenn die Leasingrate stimmt und der Kia gefällt, spricht nichts gegen dieses mit Erfahrung gemachte Elektroauto.

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