BYD Seal im Kurztest: Relevanter Wettbewerber für deutsche Autobauer
Zwei Dinge fallen beim Losfahren im Seal sofort auf: Die ordentliche Verarbeitung des Innenraums (mit einem anderen Marken-Logo ginge das Auto auch als deutsches Fabrikat durch) und das nervtötende Gebimmel des Geschwindigkeitswarners, der findet, wir bewegen uns zu schnell durch die Tiefgarage. Insbesondere Letzteres wird uns auf der weiteren Fahrt noch viel Freude machen. Aber der Reihe nach.
Von außen ist der Seal sehr flott geschnitten, die Linienführung ist betont muskulös, aber dennoch wirkt er nicht übermäßig aggressiv, eher freundlich. In kleinen Details nimmt das „Ocean Aesthetics“ genannte Design Bezüge der namensgebenden Robbe auf, beispielsweise erinnern die LED-Bänder unter den Scheinwerfern tatsächlich an Flossen.
Hochwertiger Innenraum
Auch der Innenraum ist sehr dynamisch gehalten, viele Züge erinnern an Wasser, Wellen oder eben an die Flossen einer Robbe. Wie schon beim Atto 3 setzt BYD also seine Strategie fort, seine Fahrzeuge innen wie außen betont verspielt zu designen und vermeidet gerade bzw. harte Linien.
Bei aller Verspieltheit nehmen die Chinesen das Thema Qualität aber sehr ernst, egal ob Lenkrad, Türen, Armaturenbrett oder die gesteppten Sitze – (fast) alles ist ziemlich wertig gehalten und so manchem europäischen Wettbewerber durchaus überlegen. Nichts knarzt oder klappert und fast alles fasst sich hochwertig an – lediglich die glossy Oberflächen stören dieses Bild etwas (aber die sind ja eine allgemeine Unart über alle Hersteller hinweg geworden).
Fahrspaß mit über 500 e-PS
Wir haben nur begrenzt Zeit – BYDs Flotte in Deutschland befindet sich erst im Aufbau – deswegen geht es einmal quer durch München direkt auf die Autobahn in Richtung Salzburg, um den Akku leer und auf Temperatur zu bekommen. Der Antritt gefällt, unser 390 kW starker Testwagen beschleunigt in 3,8 Sekunden von 0 auf 100 km/h – das schreibt BYD nicht nur ins Datenblatt, sondern auch anstelle einer Akkugröße oder Modellvariante auf den Heckdeckel, ein nettes Detail.
Beim Beschleunigen fällt auf: Die Dämmung ist ordentlich. Auch bei höheren Geschwindigkeiten bleibt es innen angenehm leise und man kann sich gut unterhalten. Bleibt man auf dem Strompedal, sprintet er bis 180 km/h weiter, dann ist Schluss. Im höheren Geschwindigkeitsbereich wünscht man sich ein etwas stabileres Fahrwerk, stellenweise wirkt die Federung etwas zittrig. Unterhalb von 150 km/h (ergo im für den Weltmarkt relevanten Geschwindigkeitsbereich) liegt der Seal sicher und satt auf der Straße, das Fahren macht großen Spaß.
Assistenzsysteme haben Luft nach oben
Auf der Autobahn funktionieren auch die Assistenzsysteme ganz ordentlich, nur das mit der aktiven Spurmittenführung klappt noch nicht so ganz, er eiert eher von der linken zur rechten Linie hin und her, dennoch passabel. In der Stadt hingegen ist der „Spurhaltessistent“ eher ein Kamikaze-Assistent, denn er versucht gleich mehrmals und sehr rabiat, uns von der Straße herunterzulenken. Die Lenkeingriffe erfolgen hart, unerwartet und ohne Grund – wir schalten das System lieber wieder ab.
Leider nicht dauerhaft abschaltbar ist die akustische Warnung beim Überschreiten eines Tempolimits – dann wird sofort und energisch gepiept, ab dem ersten km/h zu viel. Auch in anderen Situationen meckert der Wagen gerne und lautstark, zum Beispiel beim Spurwechsel. Wenn der Blinker nicht vom ersten Einlenken bis zum vollständigen Ende des Spurwechsel durchgängig aktiv ist, kommt wieder der nervige Piepton.
Deutliche Fortschritte beim Infotainment
Bis auf die Piepserei, die einem manchmal das Gefühl gibt, in einer fahrenden Supermarktkasse zu sitzen, überzeugt alle Technik im Innenraum aber durch die Bank weg. Die Software ist im Vergleich zum Atto 3 deutlich besser geworden: Alles läuft flüssiger, es gibt jetzt Android Auto und Apple Carplay (ersteres auch drahtlos, letzteres nur via USB-Kabel), Spotify ist nativ integriert und die Sprachsteuerung spricht jetzt ganz passables Deutsch. Kleinere Fehler wie der schlechte Verbrauchszähler und der fehlende Ladeplaner sind in meinen Augen verschmerzbar.
Ebenfalls überzeugt, dass die vorderen Sitze nicht nur beheizt, sondern auch belüftet sind. Das möchte man in warmen Sommern nicht mehr missen, wenn man es mal hatte, ist aber in dieser Preisklasse längst nicht selbstverständlich. Auch die bunt verstellbare Ambientebeleuchtung, des Headup-Display und das durchgezogene Panoramadach sind wertige Details, die dem Wagen Premium-Charakter verleihen.
Besonders interessant für Familien dürfte die bequeme Rückbank sein, gerade im Vergleich zum ähnlich großen, ähnlich flotten und ähnlich teuren Tesla Model 3 sitzt man hier geradezu fürstlich mit guter Beinfreiheit und vernünftiger Oberschenkelauflage.
Großer Schwachpunkt Ladekurve
Bis hierhin also ein rundum solides Auto mit kleineren Schwächen, bleibt noch das Aufladen. BYD ist selbst Batteriehersteller und stolz auf die „Blade“-Akku-Architektur, in der die Zellen nicht mehr zu Modulen gruppiert werden, sondern direkt das Pack bilden. Bei der Ladegeschwindigkeit ist diese Technologie leider noch nicht auf Höhe der Zeit. Schon die 150 kW DC-Ladeleistung laut Datenblatt sind in Ordnung, aber eben auch weit weg von den deutlich über 200 kW, die Hyundai-Kia oder Tesla in diesem Segment bieten.
Wirklich ärgerlich ist aber, dass der Wagen diese Leistung präzise vier Minuten hält, bevor sie auf 70 kW herunterrauscht und dort verharrt. Natürlich gibt es viele Faktoren, die einen Ladevorgang beeinflussen und vielleicht hatten wir hier einfach nur Pech, aber bei einem Autobauer, der auch Zellprofi ist und seine Akkus selbst fertigt, sollte hier deutlich mehr drin sein.
Recht positiv ist dagegen der Verbrauch, der sich zwischen 19 kWh und 25 kWh/ 100 km bewegte – Letzteres wohlgemerkt geschuldet der Tatsache, dass wir den Akku ja vor dem Ladevorgang bei höherer Geschwindigkeit warm fahren mussten. Mit etwas Zurückhaltung sind aber über 400 Kilometer Realreichweite durchaus möglich. Zusammen mit den guten Fond-Sitzen, 400 Litern Kofferraum plus 50 Litern im vorderen Kofferraum kann der Seal ein durchaus attraktives Langstreckenauto sein – wenn man mit den Ladezeiten kein Problem hat.
BYD ist gekommen, um zu bleiben
Während diversen E-Autos-Startups in diesen schwierigen Zeiten nach und nach die Luft ausgeht, baut BYD mittlerweile 250.000 Fahrzeuge pro Monat, der gesamte Konzern hat, inklusive Batteriezweig, mehr als 600.000 Mitarbeiter. In Europa ist BYD als reine Elektromarke gestartet und liefert in kurzen Abständen ein Modell nach dem anderen. Damit zeigt BYD, dass sie es ernst meinen und sich nicht auf China beschränken wollen, sondern auch in Europa ein relevanter Player werden möchten.
Nach Tang, Han und Atto 3 ist der Seal der nächste Entwicklungsschritt, bei dem sich mal wieder viel getan hat. Die Ladegeschwindigkeit bleibt ein Schwachpunkt, aber zumindest die Peakleistung hat sich schonmal deutlich erhöht, eine bessere Ladekurve kann im Zweifelsfall auch schnell per Softwareupdate eingespielt werden, solange die Hardware taugt.
Und die taugt definitiv, der Seal fährt gut, fühlt sich gut an und macht viel Spaß. Ein ähnliches Auto sucht man bei deutschen Marken bislang vergeblich, zumindest für diesen Preis. So kostet beispielsweise ein vergleichbar stark motorisierter BMW i4 fast 20.000 Euro mehr – mit der bekannt langen Aufpreisliste deutscher Autobauer.
Besser schlägt sich aktuell noch das Tesla Model 3, das ist in ähnlicher Motorisierung preislich nahezu gleichauf mit dem Seal (unser Testwagen lag bei 53.668 Euro), aber insgesamt das ausgereiftere Fahrzeug mit Blick auf Ladeleistung und Assistenzsysteme. Wenn BYD sein aktuelles Tempo beibehält und mit Software-Updates zügig die richtigen Stellschrauben dreht, könnten sie aber durchaus in ein, zwei Jahren zu Tesla aufschließen.
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