Kia EV9 im ersten Test: Das ultimative Familienauto?
Die 800-Volt-Architektur, das war vor nicht allzu langer Zeit die technologische Speerspitze der Elektromobilität, verfügbar nur in den Highend-Fahrzeugen von Porsche und Audi. Dieser Nimbus hielt aber nicht lange, denn schon wenig später brachte die Hyundai Motor Group (mit ihren Töchtern Kia und Genesis) diese Technik hinab in deutlich günstigere Segmente.
Der EV9 ist nach dem EV6 Kias zweites Fahrzeug auf Basis der „Electric Global Modular Plattform“ (e-GMP) – und das erste Modell überhaupt, das ultraschnelles Laden und sieben Sitzplätze unter einen Hut bringt. Der Wagen, der von außen recht wuchtig und grob daherkommt, erweist sich bei unserer Testfahrt als hervorragender Oberklasse-Familienwagen.
Cleveres Interieur
Die kastige Form des EV9 sorgt dafür, dass auf allen Sitzplätzen ordentlich Bein- und Kopffreiheit vorhanden ist, Abstriche muss man lediglich beim Kofferraum machen, denn das Gepäck für 7 Personen bringt man auf 330 Litern nicht unter. Mit umgeklappten Sitzen werden daraus aber bis zu 2.400 Liter, die letzte Sitzreihe klappt elektrisch weg und auch wieder hoch, die mittlere Sitzreihe nur mechanisch.
Der Innenraum überzeugt aber nicht nur durch den schieren Platz, sondern auch mit diversen gut durchdachten Features: Je nach Konfiguration sind 6 oder 7 Sitze verbaut, unser Testwagen ist die Sechssitzer-Variante mit zwei Plätzen pro Reihe, auf jedem Platz ist die Lehnenneigung verstellbar, in der letzten Reihe sogar elektrisch.
Die Einzelsitze in der mittleren Reihe sind um 270 Grad drehbar, neben der Standardausrichtung in Fahrtrichtung ist damit auch vis-a-vis-Sitzen oder vereinfachtes Einsteigen für Menschen mit körperlichen Einschränkungen möglich. Auch die Kindersitzmontage gestaltet sich mit nach außen gedrehtem Sitz deutlich bequemer als bei einer klassischen, festen Rückbank.
Ein aus der Mittelkonsole ausziehbarer Tisch, Sitzlüftung und Heizung in den ersten beiden Reihen und die hervorragende Verarbeitungsqualität runden das Gesamtbild ab.
Kritikwürdig sind hier lediglich Details: Der hintersten Reihe fehlt eine Sitzheizung, einen Massagesitz gibt es nur vorne links, die Getränkehalter sind sehr klapprig und das stellenweise verbaute glossy-Plastik passt nicht zum Premiumambiente des restlichen Fahrzeugs.
Fahren macht Spaß – Laden noch viel mehr
Trotz seiner 2,6 Tonnen Leergewicht und der erhöhten Sitzposition fühlt der Wagen sich überraschend leichtfüßig an. 283 kW beschleunigen ihn in 5,3 Sekunden von 0 auf 100 km/h, Schluss ist bei 200 km/h. Das Fahrwerk findet eine gute Balance zwischen Sportlichkeit und Komfort, es lässt wenig Unebenheiten durch, fühlt sich relativ weich an und liegt trotzdem sicher auf der Straße.
Unser Gesamtverbrauch liegt mit viel Fahrspaß bei 25 kWh/ 100 km, auf der Autobahn (gefahren in Frankreich mit 130 km/h) klettert er dabei auf 29 kWh/ 100 km und in der Stadt sind auch 16 kWh/ 100 km machbar. Die versprochenen 620 Normkilometer sind also tatsächlich zu erreichen, schrumpfen bei Tempo 130 aber auf etwas über 300 Kilometer zusammen. Richtig erfreulich ist aber das Laden, den Katalogwert von 5 bis 80 % in 25 Minuten erreichen wir auch real, ebenso die angegebene Spitzenleistung von 210 kW, erst bei 60 Prozent SoC fällt die Ladekurve unter 200 kW.
Durchdachte Features
Für die Sicht nach hinten sorgen optional elektrische Außenspiegel, immer dabei ist ein normaler Innenspiegel, der sich zu einem Display-Spiegel umschalten lässt. Was wie ein Gimmick wirkt, ist sehr nützlich, wenn man den Kofferraum dachhoch belädt und so die Sicht durch die Heckscheibe versperrt. Mit dem kamera-basierten Innenspiegel sieht man dann trotzdem noch gut nach hinten. Nach oben blickt man durch zwei Glasdächer, das vordere elektrisch öffnend, das hintere als Panoramadach feststehend. Für mehr Privatsphäre und Sonnenschutz sorgen Fenster-Rollos, Strom für mobile Geräte gibt es aus zahlreichen USB-C Anschlüssen.
Auch die Option, per Adapter eine Schukosteckdose außen zu erhalten, das Schlüssel-ferngesteuerte Ein- und Ausparken und der 50 bis 90 Liter große Frunk heben den EV9 sehr positiv von der Konkurrenz ab.
Infotainment noch ausbaufähig
Noch nicht ganz zum von Kia ausgestrahlten Premiumimage passt das Infotainment. Das Soundsystem ist gut, das Navi führt sicher zum Ziel und übersichtlich ist es auch. Gleichzeitig erlaubt man sich aber einige Patzer in der Bedienung: Die Touchleiste unter dem Bildschirm reagiert nur, wenn man die kapazitiven Buttons wirklich am exakt richtigen Punkt mit dem richtigen Druck trifft. Der Ladeplaner sucht zwar brauchbare Stopps heraus und hat einen gut sortierten Anbieter-Filter, will aber immer bis 100 Prozent laden und rechnet deswegen deutlich zu lange Reisezeiten aus. Integriertes Spotify gibt es nicht, das soll aber per Update nachkommen. Ebenfalls nachgeliefert werden müssen noch drahtloses Android Auto bzw. Apple Carplay, beides funktioniert aktuell nur via Kabel.
Hin und wieder braucht das System eine Gedenksekunde und die Sprachsteuerung versteht zwar akustisch alles, kann aber nicht mit jedem Befehl etwas anfangen. Nichtsdestotrotz: Seit dem Softwarestand bei der Vorstellung des EV6, der über ein baugleiches Infotainment verfügt, wurde erfreulich viel verbessert.
Positiv zu erwähnen ist an dieser Stelle noch das Headup-Display, das vor allem durch die gute Navi-Anzeige mit exakter Angabe der aktuellen Fahrspur den Blick auf das Zentraldisplay fast überflüssig macht.
Luft nach oben bei Assistenzsystemen
Abstandsregeltempomat und Spurhalteassistent funktionieren gut – wenn man einmal raushat, wie man die beiden aktiviert und bedient. Auch kurvigeren Autobahnen wird der Lenkassistent aber schnell nervös und der Abstandsregler bremst gerne etwas hart und plötzlich. Zumindest für den hektischen französischen Straßenverkehr zu gemütlich ist der Spurwechselassistent, bis er sich bequemt, den Wagen nach dem Setzen des Blinkers auf eine andere Spur zu bewegen, hat längst einer der lokalen Hobby-Rennfahrer die Lücke belegt. Auch die Schildererkennung funktioniert nicht immer perfekt, gerne erkennt sie auch mal zu viel (beispielsweise Limits, die nur für Ausfahrten gelten). Das vorschriftsgemäße Bimmeln bei Geschwindigkeitsübertretungen fällt immerhin erfreulich dezent aus – Systeme bei diversen Konkurrenten sind hier deutlich nerviger.
Familien-Van im SUV-Kleid
Mit dem EV9 ergänzt Kia sein Portfolio um ein großes Premium-SUV, das in Sachen Praktikabilität auch ein Kleinbus sein könnte. Daraus ergibt sich ein natürlicher Konkurrent: Volkswagens ID.Buzz. Beide Fahrzeuge sind in einer ähnlichen Preisklasse unterwegs. Die Basisausstattungen trennen etwa 8.000 Euro (Buzz: 64.581,30 Euro; EV9: 72.490 Euro), dafür macht der EV9 mit Allradantrieb, 60 Kilowatt mehr Ladeleistung, dem viel hochwertigeren Innenraum und bis zu 2,5 Tonnen Anhängelast aber auch fast alles besser als der Buzz.
Selbstverständlich hat auch der Transporter aus Wolfsburg seine Stärken, beispielsweise arbeitet Volkswagens Travel Assist deutlich souveräner als das Kia-Pendant, das Außendesign ist freundlicher und es gibt zwei Längenvarianten. Die kürzere Variante des Buzz hat 5 Sitze, gleichzeitig über 1.100 Liter Kofferraum und ist dennoch nur 4,71 Meter lang – der EV9 erreicht mit umgeklappter dritter Sitzreihe 800 Liter und ist dabei stolze 30 Zentimeter länger. Für alle, denen viel Laderaum auf kompakte Abmessungen wichtig ist, ist der VW die bessere Wahl, das günstigere Fahrzeug ist er obendrein. Wer aber für einen moderaten Aufpreis schneller und bequemer vorwärts kommen möchte oder einen schweren Anhänger ziehen muss, greift lieber zum Kia.
Fast alles richtig gemacht
Vor ziemlich genau 30 Jahren hat sich Kia auf den deutschen Markt gewagt, lange Zeit waren sie bekannt für recht langweilige Klein- und Kompaktfahrzeuge. Den Wandel zur Elektromobilität nutzen die Koreaner, um sich ein sportlicheres und hochwertigeres Image zu verpassen – mit Erfolg. Nicht nur der Designwandel ist erfolgreich gelungen, auch der Fahrspaß steht nun deutlich mehr im Vordergrund, ohne dass der Sinn für die Alltagstauglichkeit verloren gegangen ist. Kleinere Fehler erlaubt der EV9 sich zwar noch, aber schon beim Coldgating des EV6 hat Kia gezeigt, dass sie schnell dazulernen und auch innerhalb eines Modellzyklus Fehler verhältnismäßig schnell korrigieren können.
Mit dem EV9 wird endgültig klar: Aus dem einstiegen Billigproduzent ist ein ernstzunehmender Wettbewerber für die großen Player im Premiumsegment geworden.
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