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Bild: Sebastian Schaal
FahrberichtAutomobil

Kia EV9 im Test: Der koreanische Luxus-Laster

Fünf Meter lang, 2,6 Tonnen schwer: Der Kia EV9 bedient wohl die gängigsten SUV-Klischees. Dazu kommt: Er kostet über 80.000 Euro – für einen Kia! Auf über 1.000 Test-Kilometer haben wir eine Antwort auf die Frage gesucht, ob es ein Auto wie den EV9 wirklich braucht – und ob ein Kia wirklich so viel Geld wert ist.

„Hilfe, die Japaner kommen!“, hieß es in den 1980er Jahren in der deutschen Autoindustrie. Ein Jahrzehnt später waren es die Südkoreaner in Form von Hyundai und Kia, die als neue Bedrohung galten. Mit betont einfachen und günstigen Autos bedienten die neuen Hersteller Kundengruppen, die die deutschen Autobauer nicht mehr erreichten. Der Ruf der koreanischen Autos war zunächst nicht gut: Sie galten als – freundlich ausgedrückt – nicht sonderlich hochwertig, nur bedingt zuverlässig, aber sie waren eben günstig.

Knapp 30 Jahre später könnte die Entwicklung kaum krasser sein. Vor uns steht ein Testwagen für weit mehr als 82.000 Euro – mit Kia-Logo auf der Haube. Als Hecktriebler gibt es den EV9 „schon“ ab 72.490 Euro, für den Test hat Kia aber den Allradler in der GT-Line-Ausstattung geschickt. Die Marke hat sich seit dem Europa-Start enorm entwickelt und auch dank der Zugehörigkeit zum Hyundai-Konzern mit Zugriff auf deren Plattformen immer bessere Autos auf den Markt gebracht. Gerade den Wandel zur Elektromobilität hat Kia genutzt, um das eigene Angebot nach oben zu erweitern.

Das Ergebnis, das hier zum Test steht, ist der EV9 – ein 5,01 Meter langes Elektro-SUV, das eigentlich auf die asiatischen und den amerikanischen Markt abzielt. Da Kia aber das Potenzial sieht, in Europa ebenfalls einige Fahrzeuge abzusetzen, wird der EV9 auch hierzulande angeboten. Und das mit Daten, die sich durchaus sehen lassen können: Der Akku fasst 99,8 kWh, ist dank des 800-Volt-Systems in weniger als 25 Minuten auf 80 Prozent geladen und der elektrische Allradantrieb mit zwei Motoren leistet 283 kW.

Nicht nur die Daten überzeugen

Unsere Erfahrung nach über 1.000 Kilometern im EV9 zeigt aber auch, dass nicht nur die Zahlen auf dem Papier überzeugen, sondern auch das, was sich eben nicht so einfach in eine Tabelle mit technischen Daten pressen lässt – Fahrverhalten und Software, um nur zwei Beispiele zu nennen. Aber: Nichts ist perfekt, es gibt auch im EV9 Luft nach oben.

Da wäre etwa der Verbrauch. Ein so großes und kantiges Auto wie der EV9 ist natürlich kein Sparwunder, aber selbst bei Temperaturen im zweistelligen Bereich war der EV9 nur auf betont effizient gefahrenen Strecken unter 20 kWh/100km zu bringen. Mit der Fahrweise in unserem Test waren es im Schnitt 25,4 kWh/100km, was rechnerisch 391 Kilometer Reichweite ergibt. Der Bordcomputer des Testwagens wurde zuletzt vor 3.334 Kilometern zurückgesetzt und zeigt für diese Strecke einen Durchschnitt von 27,5 kWh/100km an, wobei wir keine Aussage zur Fahrweise der anderen Nutzer treffen können. Mit diesem Verbrauch wären mit einer kompletten Akku-Ladung noch 361 Kilometer möglich – und rechnet man den üblichen Langstrecken-Bereich von zehn bis 80 Prozent Ladestand, ergeben sich nur noch 262 Kilometer zwischen zwei Ladestopps.

Bei unserem Test waren wir weite Teile unter sehr guten Bedingungen unterwegs. Dass der Verbrauch unter schlechteren Bedingungen spürbar höher ausfallen kann, konnten wir auf einem Autobahnabschnitt erleben: Über Nacht war es auf nur noch vier Grad abgekühlt, die Böschung war leicht von Schnee bedeckt, die Straße feucht – und die Innenraum-Temperatur auf 21 Grad eingestellt. Und schon stieg der Verbrauch im Geschwindigkeitsbereich 120-130 km/h in Richtung der 30er Marke. Damit sinkt die rechnerische Real-Reichweite näher an die 300 Kilometer und der 70-Prozent-Wert davon in die Größenordnung von 215 bis 230 Kilometer. Für ein Auto mit einem 99,4 kWh großen Akku. Mit Blick auf die Aerodynamik mit der hohen, massiven Front und dem steil abfallenden Heck, das ein großes Loch in der Luft hinterlässt, ein fast zu erwartendes Ergebnis. Jeder Stundenkilometer mehr auf der Autobahn macht sich im Verbrauch bemerkbar – dessen sollte man sich bewusst sein. Im Testschnitt mit Landstraßen und etwas Stadtverkehr geht die Reichweite hingegen wieder in Ordnung.

Zu einem guten Langstrecken-Elektroauto gehört neben der Reichweite auch das Ladeverhalten. Und hier kann der EV9 seine Stärken ausspielen. Die Ladekurve unterscheidet sich aber deutlich von anderen Modellen auf der Plattform E-GMP, die auch der EV9 nutzt. Der aus dem EV6 oder Hyundai Ioniq 5 bekannte Akku mit 77,4 kWh lädt mit bis zu 240 kW in der Spitze, regelt bei höheren Ladeständen hingegen etwas ab. Nicht so im EV9: Hier haben wir nicht mehr als 205 kW auf der Anzeige gesehen. Dafür liegt eine Leistung um die 200 kW konstant bis knapp über 60 Prozent Ladestand an. Und selbst dann wird die Leistung zunächst nur auf 175 kW abgeregelt, bevor sie dann allerdings bei 80 Prozent auf 104 kW sinkt. Konstante 200 kW über diesen großen Bereich sind dennoch bemerkenswert. Mit einer so konstanten Ladekurve werden fast Erinnerungen an den BMW i3 wach – nur eben um den Faktor 4 höher.

Während es am Schnellladen selbst wenig zu kritisieren gibt, ist die Ladeplanung noch nicht ganz ideal: Die Ladestopps auf dem Weg zum Ziel hat der Kia stets bis 100 Prozent geplant, also unrealistisch lange. Die erste Prognose des Navis, wann man am Ziel ankommt, ist also nicht brauchbar. Eine Detail-Kritik, die man in einer anderen Preisklasse eventuell noch verschmerzen kann. Dass ein 80.000-Euro-Auto aber eine Funktion nicht beherrscht, die zahlreiche, kostenfreie Smartphone-Apps bieten, ist hingegen verbesserungswürdig.

Die Auswahl der Ladestationen, die das Navi einkalkulieren soll, kann hingegen gut gefiltert werden – etwa nach Anbietern oder Ladeleistung. Wird ein Schnellladestopp automatisch eingeplant, konditioniert das Auto selbstständig die Batterie vor, damit sie bei Ankunft im optimalen Temperaturfenster ist. Es gibt im Menü aber auch die Möglichkeit, das Vorkonditionieren manuell zu starten. Das ist dann zwar mitunter nicht ganz so zielgerichtet wie die automatisierte Variante, einige E-Auto-Fahrer bevorzugen aber die manuelle Kontrolle. Und manchmal ist das manuelle Vorkonditionieren auch einfach nötig, wenn etwa eine neue Ladesäule noch nicht im System hinterlegt ist. Der Kia ermöglicht also beides.

Kleine Kritik an den Fahrmodi

Beim Antrieb setzt die E-GMP ausschließlich auf permanenterregte Synchronmotoren. Anders als im EV6, wo bei den Allradmodellen an der Hinterachse ein stärkerer Motor verbaut ist als vorne, hat der EV9 zwei gleich starke Motoren mit jeweils 141 kW an den Achsen. Die Logik der Fahrmodi bleibt aber gleich: Im Normal- und Sportmodus sind beide E-Maschinen aktiv, im Eco-Modus wird der vordere Antrieb mit einer mechanischen Kupplung abgetrennt – ohne diese Kupplung würde die mitlaufende PSM für Schleppverluste sorgen. Sprich: Im Eco-Modus ist man mit der halben Leistung unterwegs. Das reicht für eine normale Alltags-Fahrweise mehr als aus, selbst bei einem so großen Auto. Ein Punkt, den ich mir persönlich anders wünschen würde: Selbst bei einem Kickdown, etwa für ein Überholmanöver, wird im Eco-Modus der vordere Motor nicht kurzzeitig zugeschaltet. Man sitzt also in einem 385-PS-Auto, muss aber den Fahrmodus wechseln, um das auch abzurufen.

Sind hingegen beide Motoren aktiv, ist auch die Elektroauto-typische Beschleunigung vorhanden. Tatsächlich könnte ich mir aber vorstellen, im EV9 auf den Allrad zu verzichten, wenn das Auto nicht gerade als Zugfahrzeug (Anhängelast: 2.500 kg) genutzt werden soll. Ist es eher ein Familienauto (zum Beispiel anstelle eines Elektro-Vans), benötigt man die zusätzliche Beschleunigung oder Traktion eher selten. Und auch das Fahrwerk ist – wenig überraschend – auf Komfort ausgelegt. Sollte man doch einmal eine Kurve etwas zügiger nehmen, nimmt das der EV9 nicht übel. Seine Stärke ist aber ganz klar das ruhige und entspannte Dahingleiten, egal ob auf Landstraßen oder Autobahnen. Das macht der Kia ausgesprochen gut, zumal er nur über eine Stahlfederung verfügt. An das Luftfahrwerk, das wir etwa im Mercedes EQE SUV testen konnten, kommt er nicht ran – aber es fehlt auch nicht viel.

Deutlich größer ist der Unterschied zwischen diesen beiden Modellen beim Platz, obwohl der EQE SUV nur eine Handbreit kürzer ist. Im Mercedes finden fünf Erwachsene gut, aber nicht gerade üppig Platz und auch der Kofferraum ist für ein 4,90 Meter langes Fahrzeug eher Durchschnitt. Der Kia wirkt hingegen beim Platzangebot eher wie ein Van: Er ist wirklich nur elf Zentimeter länger, aber das Raumgefühl ist nicht vergleichbar zum EQE SUV. Selbst mit drei Erwachsenen auf der Rückbank haben alle angenehm viel Platz und es passen über 800 Liter (fensterhoch) in den Kofferraum. Mit umgeklappter Rücksitzbank sind es über 2.300 Liter Ladevolumen. Werden alle sieben Sitze benutzt, bleiben nur 333 Liter übrig – beim Mercedes ist an sieben Sitze nicht zu denken. Bei all dem Nutzwert ein Haken: Die Zuladung des leer 2,6 Tonnen schweren EV9 beträgt nur 574 Kilogramm. Wenn alle sieben Sitze belegt sind, bleibt wohl kaum noch Zuladung fürs Gepäck übrig.

Der EV9 kann bis zu einem gewissen Grad den Laster spielen, überzeugt aber nicht nur mit seinem Nutzwert, sondern auch beim Komfort. Das Fahrwerk ist wie erwähnt auf Langstrecken sehr angenehm, aber auch die Sitze tragen das Ihre zu dem Komfort-Level bei. Im Testwagen ist das Gestühl auf den vorderen fünf Plätzen bequem, aber nicht zu weich gepolstert – die beiden Klappsitze im Kofferraum lassen wir hier mal außen vor. Dass es für guten Komfort aber nicht immer das schwere Gestühl sein muss, zeigt etwa die Kopfstütze des Kias: Hier reicht ein dünner und leichter Mesh-Bezug aus, um eine sehr weiche und angenehme Ablage zu bieten. Man muss aber einschränken, dass wir hier nur den noch recht neuen Testwagen bewerten können – und nicht, wie sich das Mesh auf der Kopfstütze nach sieben Jahren verhält.

Obwohl der EV9 im Innenraum einiges anders macht, ist er sofort als moderner Kia zu erkennen. Statt der umschaltbaren Touch-Leiste im EV6 und Niro EV gibt es im EV9 flächenbündig in das Armaturenbrett eingelassene Schnellwahl-Taster für die wichtigsten Funktionen. Da diese Touchflächen direkt unter dem Display platziert sind, waren sie einfacher zu bedienen als die auf dem Papier funktionalere, aber tiefer platzierte Touch-Leiste des EV6. Dazu gibt es im EV9 ein paar haptische Tasten für die Klima-Steuerung und zwischen dem Infotainment-Touchscreen und dem Fahrerdisplay noch eine weitere Klima-Bedieneinheit. Insgesamt ein durchdachtes und intuitives Konzept mit minimalen Abzügen: Die Klima-Bedieneinheit ist je nach Sitzposition für die Person hinter dem Steuer nicht immer gut zu erreichen. Und dass die vier Tasten in der Mittelkonsole in glattem Hochglanz-Kunststoff gehalten sind, passt nicht wirklich zum Gesamtbild mit eher matten Oberflächen.

Obwohl auch in einem 80.000-Euro-Auto einiges an Kunststoff verbaut wird, hat der Innenraum insgesamt einen hochwertigen Eindruck hinterlassen. Die Materialien sind sauber verbaut, nichts hat geknarzt oder geklappert – auch in den zahlreichen Ablagen nicht. Mit den Stoff-Elementen am Armaturenbrett, den erwähnt guten Platzverhältnissen und dem guten Lichteinfall dank der großen Fenster ergibt sich ein angenehmes Ambiente. Meine Vermutung: Würde man die Logos abkleben, würden Passanten bei einem Blind-Test sicher nicht auf einen Kia tippen.

Fazit

Keine Frage, mit über fünf Metern Länge und 2,6 Tonnen Gewicht ist der EV9 ein massives Auto. Punkt. Daher sollte man sich schon genau überlegen, ob ein so großes Auto wirklich nötig ist. Dass es den Bedarf gibt, will ich nicht in Frage stellen! Ob dieser Bedarf oft besteht, hingegen schon. Wenn aber zum Beispiel ein Kofferraum dieser Größe oder Platz für fünf Erwachsene mit Option auf zwei weitere Sitze öfter benötigt wird, ist der EV9 eine überraschend gute Wahl. Natürlich kommt er nicht an den Nutzwert eines fünf Meter langen Vans heran, im Vergleich zu anderen E-SUV – wie dem im Text erwähnten EQE SUV – ist er aber der Van unter den Elektro-SUV. Dabei bietet er beim Antrieb und den weiteren eMobility-Funktionen hingegen eine Leistung, die viele andere SUV übertrifft – von den Van-Antrieben ganz zu schweigen.

Sprich: Die Nische für ein solches Auto mag in Europa nicht sehr groß sein. Wenn dieser Nischen-Bedarf aber besteht, bedient ihn der EV9 sehr gut. Selbst dann, wenn es ein Kia für mehr als 80.000 Euro ist. Besser als ein Fünf-Meter-SUV mit fettem V8 unter der Haube ist er allemal.

Rein mit diesem Produkt betrachtet ist Kia die Höher-Positionierung der Marke gelungen. Schon der EV6 und erst recht der EV6 GT gingen in diese Richtung, mit dem EV9 wird aber eine Kundengruppe angesprochen (und teilweise sicher auch überzeugt), die bisher nicht an die Marke gedacht hat. Gleichzeitig gibt es aber auch viele Kunden, die Kia bisher mit einem Picanto oder Rio angesprochen hat – also schicke, aber preiswerte Kleinwagen am ganz anderen Ende der Skala. Auch diese Kunden sollten früher oder später mit in die Elektromobilität genommen werden. Ankündigungen wie der EV4 und EV3 sind da ein richtiger Schritt – aber noch lange nicht genug. Zwar ist es unternehmerisch kurzfristig verständlich, wenn Autobauer in höherpreisige Segmente mit besseren Margen drängen. Gesellschaftlich – und damit langfristig unternehmerisch – ist aber auch die bezahlbare Mobilität wichtig. Und die muss eben auch elektrisch werden. Einem EV9 also bald die Kia-Version eines Hyundai Inster an die Seite zu stellen, wäre nicht nur wünschenswert, sondern dringend nötig!

1 Kommentar

zu „Kia EV9 im Test: Der koreanische Luxus-Laster“
Siegfrid Brandstätter
30.06.2024 um 18:57
"Die Ladestopps auf dem Weg zum Ziel hat der Kia stets bis 100 Prozent geplant" Das liegt daran das der Tester die Einstellungen auf 100% anstatt auf z.B. 80% eingestellt hat. Man sollte sich schon ein wenig auskennen bei einem Auto und nicht dem Auto die Schuld geben wenn man selber Fehler macht.

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