volvo ex90 fahrbericht christian bittmann 2024 10 min
Bild: Christian Bittmann
FahrberichtAutomobil

Erste Ausfahrt im Volvo EX90: Was lange währt, wird endlich gut?

Bilder des neuen Elektro-Flaggschiffs EX90 sind schon lange bekannt, schließlich hat Volvo das große SUV schon 2022 vorgestellt. Die Produktion wurde aber verschoben, Grund waren Software-Probleme. Kurz vor der Premiere konnten wir eine erste Runde im neuen EX90 drehen. Kann der Volvo mit Blick auf 2024 und darüber hinaus überzeugen?

Als Volvo 2014 die neue Generation seines Flaggschiffs XC90 vorgestellt hatte, war es in der Tat eine Modellpremiere mit weitreichenden Auswirkungen auf das Unternehmen: Die Plattform SPA (Scalable Product Architecture) wurde fortan für alle 60er und 90er Baureihen verwendet, die für Volvo so lange Zeit charakteristischen Fünfzylinder wurden aussortiert – selbst im Fünf-Meter-SUV XC90 kamen nur noch zwei Liter große Vierzylinder zum Einsatz, welche die mittelgroßen und großen Volvo-Modelle bis heute prägen. Ganz nebenbei war es das erste Modell, das unter der Ägide von Geely entwickelt worden war.

Beim EX90 haben nicht mehr der Einstieg der Chinesen oder der Verzicht auf einen Zylinder die Schlagzeilen bestimmt, sondern die Tatsache, dass das Modell im November 2022 als reines Elektroauto vorgestellt wurde – und der Fakt, dass aus der für 2023 geplanten Produktion wegen Softwareproblemen nichts wurde. Tatsächlich läuft das Auto erst seit diesem Juni im US-Werk in Charleston (South Carolina) vom Band. Die ersten Exemplare sollen noch in diesem Jahr in den USA und Europa ausgeliefert werden.

Nicht nur der Produktionsort macht deutlich, wo die Schweden den größten Markt für ihr neues Elektro-SUV sehen. Die ersten Testfahrten fanden in Kalifornien statt, eine Autostunde südlich von Los Angeles. Mit seinen 5,04 Metern Länge hat der EX90 für US-Verhältnisse noch keine überragenden Ausmaße, dennoch kann man sich den Wagen eher auf dem East Coast Highway bei Newport Beach als in einem deutschen Innenstadt-Parkhaus vorstellen. Von einem gewissen Verkaufserfolg in Europa hat die Größe den Vorgänger XC90 aber nicht abgehalten – auch wenn sich das Volumen bei Volvo zunehmend in Richtung der kleineren Baureihen bis hin zum EX30 verschiebt. Übrigens: Der „alte“ XC90 läuft nicht komplett aus, sondern erhält ein Facelift, um als Mild- und Plug-in-Hybrid noch einige Jahre das Angebot zu ergänzen.

Drei Antriebe zum Start

Wir konzentrieren uns aber auf den rein elektrischen EX90. Zum ersten Test hat Volvo die Top-Variante EX90 Twin Motor Performance gestellt, die auf 380 kW Leistung und 910 Nm Drehmoment kommt. Darunter rangiert der 300 kW starke Twin Motor AWD, der wie die Performance-Version einen 111-kWh-Akku (netto: 107 kWh) nutzt. Der EX90 Single Motor RWD (205 kW) hat „nur“ einen 104 kWh großen Akku.

Mit den Volvo-typischen 180 km/h Höchstgeschwindigkeit und 4,9 Sekunden aus dem Stand auf 100 km/h klingen die Eckdaten des EX90 in Zeiten aberwitziger Elektroauto-Leistungen nicht gerade nach einem Topmodell, allerdings ist die Papierform nur beim Auto-Quartett entscheidend, nicht aber auf der Straße. Denn hier hat der EX90 mit einer extrem kultivierten und sauberen Abstimmung des Antriebs überzeugt – für die Kundschaft der Marke wohl ein wichtigeres Feature als eine Zehntelsekunde bei der Beschleunigung.

Die 910 Newtonmeter sind stets präsent und unmittelbar abrufbar, im „Performance AWD“-Modus verbessert zudem ein über Kupplungen realisiertes Torque Vectoring die Traktion. Aber selbst in dieser sportlichen Antriebs-Einstellung bleibt die Leistung stets gut dosierbar, ebenso die Rekuperation – egal ob im Stadtverkehr an der Ampel, auf dem Highway oder in den Kurven quer durch den Canyon.

Ähnlich kultiviert wie den Antrieb hat Volvo auch das Fahrwerk abgestimmt. Die neue Zwei-Kammer-Luftfederung arbeitet komfort-betont, aber nicht zu weich. Selbst mit den 22-Zöllern des Testwagens werden die meisten Unebenheiten sauber weggefedert, lediglich einige kürzere Stöße können in den Innenraum gelangen – hier wäre interessant, wie sich der EX90 in Europa auf kleineren Felgen verhält. Herausragend ist auch der Geräuschkomfort innen. Aber auch hier wird erst ein Europa-Test Klarheit bringen, wie dies auf die deutschen Autobahn übertragbar ist – in den USA kamen wir kaum über 110 km/h hinaus.

Selbiges gilt auch für den Verbrauch: Die 22 kWh/100km des Bordcomputers sind noch mit Vorsicht zu genießen. Die schnurgeraden US-Straßen mit einigen Ampeln bilden nicht unbedingt die Verkehrsszenarien in Mitteleuropa ab. Immerhin bedeutet dieser Verbrauch eine Real-Reichweite von etwas über 480 Kilometern, selbst mit etwas höherem Verbrauch sollten 400 Kilometer zwischen zwei Ladestopps gut möglich sein.

Neben dem „Performance AWD“-Modus kann auch noch für die Luftfederung und die Lenkung zwischen „Soft“ und „Firm“ gewählt werden. Diese Einstellungen hat Volvo derart tief in der Menüstruktur versteckt, dass es eigentlich ein Kritikpunkt wäre. In der Praxis wird das aber wohl kaum ein Volvo-Kunde nutzen. Zum einen sind in beiden Fällen die Unterschiede zwischen „Soft“ und „Firm“ so gering, dass sie ohne bewussten Vergleichstest kaum zu spüren wären. Und zum anderen ist die „Soft“-Einstellung einfach ausgesprochen passend und harmonisch – „Firm“ gibt nur minimal mehr Feedback der Straße, wirklich sportlicher ist diese Einstellung nicht. Und selbst in „Soft“ ist die Straßenlage gut, das Auto wankt nicht um die Kurven.

Erfahrungen zur Lade-Performance können wir nach dieser ersten Ausfahrt noch nicht liefern – die Reichweite ist mit real über 450 Kilometern zu hoch, die Zeit war zu knapp. Selbst am Ende unserer Testfahrten waren noch über 40 Prozent Ladestand übrig. Die 250 kW DC-Ladeleistung aus dem Datenblatt sind aber nur an wenigen Ladesäulen überhaupt möglich: Der EX90 basiert auf einer 400-Volt-Architektur, mit den üblichen 500 Ampere wäre bei 200 kW Ladeleistung Schluss. Allerdings geht Volvo über diese 500 Ampere hinaus: An einigen 400-kW-Ladesäulen (wie sie hierzulande etwa im Deutschlandnetz aufgebaut werden) sind kurzzeitig höhere Stromstärken möglich, der EX90 kann hier also bei entsprechendem Ladestand auf seine 250 kW kommen. Der Vorteil zu den üblichen 500-Ampere-Säulen (etwa die 300-kW-Leistungsklasse) ist jedoch überschaubar: Bei den Standard-Ladevorgängen von zehn auf 80 Prozent holt der EX90 mit 250 kW nur zwei Minuten raus und benötigt 30 statt 32 Minuten (mit 200 kW in der Spitze).

Aktuell bleibt es bei 400 Volt

Übrigens: Der Wechsel auf ein 800-Volt-System in der Mitte des Modellzyklus wird von Volvo nicht bestätigt, aber auch nicht ausgeschlossen. Die Schweden weisen darauf hin, dass der Wechsel der Systemspannung einen deutlich größeren Eingriff bedeuten würde als die Verschaltung der Zellen in der Batterie – Lade-Hardware, Motoren, Inverter, alle wären betroffen. Bei BMW steht mit der Neuen Klasse eine 800-Volt-Architektur vor dem Start, bei Mercedes ist der Wechsel auf 800 Volt mit dem jüngsten EQS-Facelift nicht erfolgt, aber wohl auch nicht ganz vom Tisch. Seitens Volvo hieß es in Kalifornien nur, dass man an das eigene Produkt glaube.

Für das AC-Laden ist ein Onboard-Charger mit 11 kW verbaut, ein vollständiger Ladevorgang dauert elf Stunden. Die angekündigte, bidirektionale Ladefunktion gibt es zum Start noch nicht, sie soll 2025 via Over-the-Air-Update folgen. Angesichts der ohnehin bremsenden Software-Probleme hat Volvo diese Funktion hinten angestellt, zumal sie ohnehin nicht schnell von vielen Kunden genutzt werden kann. Denn neben dem passenden E-Auto ist Infrastruktur-seitig auch noch die passende Hardware nötig. Und: In vielen Ländern fehlt noch ein rechtlicher Rahmen.

Von den Software-Problemen ist bei der ersten Ausfahrt wenig zu spüren – Volvo wollte sich nicht näher dazu äußern, in welchen Bereichen der Software noch gearbeitet werden musste. Falls es dabei um den Antrieb, das Fahrwerk oder die Fahrassistenten ging, hat sich die Verschiebung gelohnt – hier zeigten sich keine Auffälligkeiten. Bei dem neuen Infotainmentsystem auf Android-Basis gab es keine größeren Herausforderungen, lediglich einige Einstellungen (wie etwa für das Fahrwerk) waren ohne Übung etwas versteckt. Über das System lassen sich auch Routen planen sowie Ladestationen finden und auch nach gewissen Kriterien filtern. Es fiel nur auf, dass die Kartenansicht bei aktiver Routenführung einige Male für wenige Sekunden weit rausgezoomt hat, um dann wieder auf eine nutzbare Ansicht zu wechseln.

Lidar sammelt erstmal nur Daten

Da Volvo die Sicherheit als einen seiner Markenkerne sieht, sind auch die Fahrassistenten mit Bedacht abgestimmt. Obwohl der EX90 einen Lidar-Sensor über der Frontscheibe hat (von einigen wegen seiner Form als „Taxi-Schild“ verspottet), bleibt Volvo im Bereich des assistierten Fahrens – von autonomen Fahren ist nicht die Rede. Der Laser-Sensor wird derzeit vor allem dazu genutzt, um Daten zu sammeln und das Zusammenspiel von Kamera und Radar zu verbessern: Ein Radar-Sensor kann Abstände gut messen, wird aber mitunter von Radar-Echos verwirrt. Die Kamera hilft dabei, die Echos herauszufiltern und nur das eigentliche Objekt zu identifizieren – dafür ist die Kamera bei schlechter Sicht oder starkem Gegenlicht stark eingeschränkt. Das Lidar kann potenziell beides. Vor allem kann es dabei helfen, die Entscheidungen des Systems zu beschleunigen – wenn die Kamera-Radar-Kombination womöglich noch eine zweite Messung einige Meter weiter benötigt, um sich ausreichend sicher zu sein, kann das Lidar als drittes System direkt ein Objekt verifizieren.

Sprich: Die Grundlagen bei der Hardware sind da. Volvo wird nach eigenen Angaben aber kein System einführen, bei dem man sich nicht zu 100 Prozent sicher ist – daher zunächst die Datensammlung.

Kurz noch zum Innenraum: Zum Test stand der Siebensitzer bereit, alternativ gibt es den EX90 in Europa auch als Fünf- und Sechssitzer. Die Platzverhältnisse sind der Fahrzeuggröße angemessen, setzen aber keine neuen Standards. Denn trotz der Elektro-Plattform hat sich Volvo für klassische Proportionen mit einer recht langen Fronthaube entschieden (samt Frunk mit 49 Litern darunter). In den Sitzreihen eins und zwei können sicher zwei Erwachsene mit 1,90 Metern hintereinander bequem Platz finden. In der dritten Reihe geht es beengter zu, kurze Strecken sind aber auch für Erwachsene möglich.

EX90 Single MotorEX90 Twin MotorEX90 Twin Motor Performance
AntriebRWDAWDAWD
Leistung205 kW300 kW380 kW
Drehmoment490 Nm770 Nm910 Nm
Beschleunigung8,4 s5,9 s4,9 s
Höchstgeschwindigkeit180 km/h180 km/h180 km/h
WLTPReichweite580 km614 km614 km
Batteriekapazität101 kWh107 kWh107 kWh
Ladeleistung DC235 kW250 kW250 kW
Ladezeit DC 10-80%29 min30 min30 min
Preis83.700 Euro91.700 Euro96.800 Euro

Werden alle sieben Sitze genutzt, bleiben im Heck nur 324 Liter Stauraum übrig, gleiches gilt für den Sechssitzer. Hinter der zweiten Reihe sind es 669 Liter, wobei aber keine geschlossene Ladefläche entsteht – rund um die Kopfstützen der dritten Reihe gibt es einige Hohlräume, durch die kleinere Gegenstände fallen können. Und wer einen Hund im Kofferraum transportieren will, sollte diese Löcher ebenfalls mit einer Kofferraummatte abdecken – oder gleich zu einer passenden Hundebox greifen. Werden auch die Sitzlehnen der zweiten Reihe umgeklappt, passen bis zu 1.955 Liter in den EX90 – beim Sechssitzer mit den beiden komfortablen Einzelsitzen in der zweiten Reihe sind es „nur“ 1.867 Liter. Unabhängig von der Zahl der Sitze beträgt die Dach- und Anhängelast 100 kg bzw. 2.200 kg gebremst bei den Allradlern bzw. 1.200 Kilogramm beim Hecktriebler.

Zu den Preisen: Auch der XC90 war kein günstiges Auto, daran knüpft Volvo beim EX90 an: Das Basismodell mit kleiner Batterie als Fünfsitzer ist in Deutschland ab 83.700 Euro bestellbar, der Twin Motor (nur als 6- oder 7-Sitzer) kostet schon mindestens 91.700 Euro. Das von uns gefahrene Performance-Modell startet gar erst bei 96.800 Euro in der Core-Ausstattung und lässt sich als „Ultra“ sogar für 107.400 Euro Basispreis bestellen. Mit etwas Ausstattung sind schnell 120.000 Euro oder mehr beisammen.

Fazit

Ist die elektrische Neuauflage des Volvo-Flaggschiffs also gelungen? Nach den ersten Kilometern in dem Auto würde ich persönlich das mit einem „Ja, aber“ beantworten. Ja, der EX90 ist ein guter Volvo geworden und wird bei den Kunden der Marke sicher seine Freunde finden – er ist hochwertig verarbeitet, komfortabel und sieht aus wie ein moderner Volvo. Und er ist auch darüber hinaus ein gutes Auto geworden. Man muss schon ins Detail gehen, um Kritikpunkte zu finden. Selbst gegen Aufpreis gibt es keinen 22-kW-AC-Lader, die AC-Ladezeit bleibt also entsprechend lang, was den Praxisnutzen an öffentlichen AC-Ladepunkten mit Blockiergebühr einschränkt. Das Head-up-Display bietet nur wenige Anzeigemöglichkeiten, bei der Navigation ist nur eine Pfeil-Darstellung möglich – wo andere schon große Karten oder Augmented-Reality-Elemente in das Sichtfeld einblenden. Das große Panorama-Glasdach kann weder geöffnet noch verdunkelt werden. Und bei unserem Testwagen mit Woll-Sitzbezügen hat ein kleines Label, das auf den verbauten Airbag hinweist, immer wieder am Arm gepiekst. Ja, so weit muss man gehen.

Aber: Ich bin mir nicht sicher, ob der EX90 viele neue Kunden zu Volvo ziehen wird. Technisch bietet er 2024 (oder realistisch 2025 in größeren Stückzahlen) zu wenig Neues, um im Wettbewerb der E-SUV herauszuragen. Einen hohen Fahrkomfort, gute Verarbeitung und 400-Volt-Ladezeiten gibt es auch bei BMW oder Mercedes (hier im Falle des EQS SUV auch als Siebensitzer). Features wie die 800-Volt-Technik, Vehicle-to-Grid oder der aktive Einsatz des Lidars, der bei den autonomen Fahrfunktionen mehr ermöglicht hätte, sind zum Start nicht verfügbar. Hier hätte Volvo den Unterschied machen können.

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