Ausblick auf die Mercedes VAN.EA: Wenn der Elektro-Van zum Raumschiff wird
Andreas Zygan ist erleichtert. Denn in den vergangenen Wochen hat sich der oberste Van-Entwickler bei Mercedes auf ein großes Abenteuer eingelassen. Ein, zwei Jahre früher als üblich hat er seine Ingenieure mit der nächsten Generation der V-Klasse vom Testgelände und den Prüfständen nach draußen geschickt und ihnen dabei keine der kleinen Spritztouren vorgegeben, mit denen sich die Prototypen sonst ins echte Leben wagen, sondern gleich einen Marathon: Von Stuttgart ans Nordkap sind die Entwickler mit der nächsten V-Klasse gefahren und nach 3.343 Kilometern mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 74,5 km/h und einem guten Dutzend Stopps an den unterschiedlichsten Ladesäulen ohne nennenswerte Pannen und Problemen wieder zurück gekommen – sehr zur Erleichterung Zygans, der die Reise in der Mission Control begleitet und den Datenstrom live am Rechner verfolgt hat.
„So früh haben wir uns noch nie auf so ein Experiment eingelassen“, sagt Zygan und schwärmt von einem neuen Entwicklungsansatz: „Statt bisher spät in der Entwicklung zwei, drei große Erprobungsfahrten in der Hitze und der Kälte zu absolvieren, haben wir uns diesmal Software-Projekte zum Vorbild genommen“, sagt Zygan: „Wir machen kleine Sprints in crossfunktionalen Teams und arbeiten parallel auf der Straße und am Rechner.“ Das soll am Ende bis zu 25 Prozent der üblichen Entwicklungszeit sparen.
Aber die Eile tut Not. Denn Mercedes ist bei der Elektrifizierung seiner Vans hinten dran. Der EQV und sein gewerblicher Bruder Vito hat zwar gerade ein Facelift bekommen, bei dem aber nur der Auftritt und das Ambiente aufgefrischt wurden, am nicht so richtig konkurrenzfähigen Antrieb hat sich jedoch nichts geändert. Und gegen die neue Edel-Konkurrenz aus Asien, wo Raumfahrer vom Schlage eines Denza D9, eines Lexus LM oder neuerdings sogar eines Volvo EM90 zunehmend zur Alternative für luxuriöse Limousinen werden und ausgerechnet der S-Klasse und sogar dem Maybach die Schau stehlen.
Aktuelle E-Vans nicht wirklich konkurrenzfähig
Und beim Sprinter wurde zwar zum Facelift auch die Technik auf Vordermann gebracht und ein modularer Antriebsbaukasten samt elektrischer Hinterachse in die bestehende Architektur gequetscht. Doch maximal 440 Norm-Kilometer sowie Ladeleistungen von elf bzw. 115 kW reichen kaum aus, um mit Modellen wie dem neuen Renault Master mitzuhalten. Von dezidierten Elektro-Transportern wie Rivians E-Deliver-Van oder Kias kommender Transporter-Flotte ganz zu schweigen .
Deshalb können Zygan und sein Chef, Van-Leiter Mathias Geisen es kaum erwarten, bis endlich ihre VAN.EA fertig ist. So, wie die MMA mit dem neuen CLA zum Befreiungsschlag für die Pkw-Division werden soll, so soll Zygans neue Elektro-Architektur auch die Raumfahrer endlich wieder zu Überfliegern machen. Zum einen, weil sie mit 800-Volt-Technik, 22-kW-AC-Lader, der Option auf Allradantrieb und mit Akkus für mehr als 500 Kilometer Reichweite konkurrenzfähige Antriebe bietet. Weil sie mit dem neuen Betriebssystem MB.OS gerüstet ist für ein Infotainment auf den Niveau der S-Klasse und für Assistenzsysteme, die sich bis zum Autopiloten aufrüsten lassen. Und weil sie flexibel genug ist, das gesamte Van-Portfolio abzudecken – zumindest von der V-Klasse aufwärts. Und für den Citan und die T-Klasse aus der Kooperation mit Renault sind die Tage dem Vernehmen nach ohnehin gezählt.
Dafür gibt es ein einheitliches Frontmodul für alle Varianten, ein Mittelmodul skaliert die Fahrzeuglänge und birgt in einheitlichen Gehäusen unterschiedliche Batteriegrößen, und das Heckmodul gibt es als Mitläufer-Achse oder mit einem zweiten Motor für den überfälligen elektrischen Allradantrieb.
Während sie bei der Technik mit einem Baukasten zwar die Zahl der Varianten um 50 Prozent reduzieren, aber trotzdem alle Bedürfnisse bedienen wollen, setzten sie beim Design auf mehr Individualisierung denn je. Nicht nur namentlich rücken die privaten und gewerblichen Fahrzeuge auseinander, lassen die Herren Geisen, Zygan und Van-Designer Kai Sieber durchblicken. Sondern auch optisch gibt es keine Verwechselungsgefahr mehr: Die V-Klasse, so viel verrät das Trio bei einer exklusiven Preview – natürlich ohne Kamera – schon mal, löst sich vom Diktat maximaler Raumausnutzung, leistet sich statt Ecken und Kanten auch mal ein paar Rundungen und kann mit so viel Licht und Lametta geschmückt werden, dass all die V-Klassen mit gefaktem Maybach-Design, die derzeit durch China oder die Türkei rollen, plötzlich nur noch wie billige Kopien aussehen. Und der Nachfolger von Vito und Sprinter wird kantig, kastig. Quadratisch, praktisch und gut soll er den bulligen Boss geben, mit dem Handel, Handwerk und Gewerbe stolz auf die Baustelle oder an die Laderampe rollen können.
Wenn Zygan – eine weitere Premiere im Entwicklungsfahrplan der Schwaben – schon zwei Jahre vor dem Marktstart zur ersten Fahrt in einem jener Prototypen bittet, der gerade vom Nordkap zurück gekommen ist, kann man schon viel vom Aufbruch spüren. Zwar trägt die neue Plattform dabei noch die alte Karosserie, die obendrein mit der Tarnfolie der Erlkönige beklebt ist, so dass man nicht mehr erkennen kann als die die deutlich größere Spurweite unter den weit ausgestellten Kotflügel. Und auch im Innenraum ist weder viel von der großen Bildschirmlandschaft zu erkennen, von der Sieber vorhin im Designstudio noch geschwärmt hat, noch von Zygans Vision für die S-Klasse unter den Vans. Denn wo man später auf Wunsch mal in luxuriösen Captain-Chairs lümmeln und sich auf großen Bildschirmen digital berieseln lassen soll, quetschen sich die Ingenieure jetzt noch zwischen Computern und Messinstrumente auf normale Bänke. Der der extrem tiefe und flache Kofferraumboden ist vollgestopft mit Technik. Und von Samt und Seide kann auch noch keine Rede sein.
Doch beim Fahren wird der Unterschied schon mehr als deutlich. Wie sanft und smooth der Raumfahrer dahin gleitet zum Beispiel – als wäre er nicht auf Belgischem Pflaster unterwegs, sondern auf der Milchstraße. Wie kräftig er antritt, wie gediegen er abrollt. Da kommt der Van einer der S-Klasse schon jetzt tatsächlich näher als einem Sprinter. Er ist deutlich schneller als der aktuell bei 140 km/h abgeregelte EQV und sehr viel handlicher wirkt er obendrein. Wie alle Autos, die auf einer dezidierten Elektroplattform aufbauen (und keinen Platz mehr lassen müssen für einen Verbrenner), hat er einen spürbar kleineren Wendekreis. Deshalb kratzt die V-Klasse die Kurve, als wäre sie auf das Format der B-Klasse geschrumpft und wedelt hurtig durch die Hütchengasse, die sie im Innenraum des Ovals der Mercedes-eigenen Einfahrbahn in Untertürkheim aufgebaut haben. Im Slalom durch den Stopp-and Go-Verkehr oder einparken vor dem Grand Hotel – da können sich die Chauffeure auf was freuen. Und das ist diesmal nicht ironisch gemeint.
100 kWh Akku, 300 kW Leistung dürften gesetzt sein
Man muss kein Hellseher sein, um hier von mehr als 100 kWh auszugehen, damit trotz der angeblich ach so windschnittigen Form am Ende die über 500 Kilometer Reichweite auf dem Bordcomputer stehen, ohne die man in dieser Klasse nicht mehr antreten muss. Und so flott, wie die V-Klasse um den Kurs fährt, werden es bei dem wohl schnell drei Tonnen Gewicht schon 300 kW sein müssen, die Zygan zusammen an den beiden Achsen installiert hat. Wer es genauer wissen will, den bittet der oberste Entwickler allerdings noch um ein wenig Geduld. Denn so schnell die Schwaben diesmal auch sind, wird es schon noch ein bisschen dauern, bis sie die Folie herunter reisen, den Schleier lüften und das Datenblatt herausrücken. Erst 2026 soll die neue V-Klasse powered by EQ-technology als erstes Modell der VAN.EA-Famiie an den Start gehen.
Und ganz nebenbei müssen sie sich ja auch noch um die bestehenden Palette kümmern. Denn auch wenn Mercedes mit der VAN.EA auf einen Befreiungsschlag hofft, endlich in der ersten Liga der neuen Lademeister mitspielen und den elektrischen Anteil bis 2030 auf 50 Prozent steigern will, haben die Stuttgarter Raumfahrer die Bodenhaftung nicht verloren. Geisen und Zygan sind nicht abgehoben, sondern wissen, dass längst nicht alle Kunden reif sind für den Wechsel und natürlich spüren auch sie, wie die elektrische Euphorie zuletzt abgekühlt ist. Deshalb wird es auch keinen radikalen Übergang geben, stellt Zygan in Aussicht: Sondern fürs Erste werden VAN.EA und die alten Modellen parallel angeboten.
2 Kommentare