Mercedes Drive Pilot fährt bald 95 km/h autonom – und wir sind schon mitgefahren
Zum Jahresende will Mercedes-Benz ein Update für seinen DRIVE PILOT auf 95 km/h herausbringen. Das Level 3 System kann dadurch künftig auch unabhängig von einem Stau aktiviert werden. Das Update wird sowohl für den EQS als auch für die S-Klasse bereitgestellt und soll für Neufahrzeuge sowie voraussichtlich – je nach Modelljahr – per OTA-Update auch für Bestandsfahrzeuge verfügbar sein. Zu einem späteren Zeitpunkt, mit aktualisierter Hardware, wird das System in seiner finalen Ausbaustufe auf eine Geschwindigkeit von bis zu 130 km/h erhöht. Das ist das Mercedes-Ziel zum Ende der Dekade. Vergangene Woche nun hatte der Hersteller internationale Pressevertreter zur Präsentation seines Drive Pilot 95 auf den Techno Campus in Berlin geladen. Und wir waren natürlich dabei!
Die Technik dahinter
Drive Pilot ist das weltweit erste SAE-Level-3-System für hochautomatisiertes Fahren, das eine international gültige Systemgenehmigung erhalten hat. Intern vergleichen die Stuttgarter ihr System mit der „Mondlandung“. Kleiner ging’s nicht. Der Drive Pilot ist seit 2022 in Deutschland für die EQS Limousine und die S-Klasse verfügbar, wobei alle 13.191 Autobahnkilometer in Deutschland für das hochautomatisierte Fahren freigegeben sind. In den USA ist das System sogar schon seit Ende 2023 in den Bundesstaaten Nevada und Kalifornien verfügbar. Zudem hat Mercedes-Benz in China die offizielle Genehmigung erhalten, hochautomatisierte Fahrsysteme (Level-3) in Peking zu testen. Die Entwicklung geht also global voran.
Die Technologie des Drive Pilot basiert auf einer sicherheitsorientierten, redundanten Systemarchitektur mit über 30 Sensoren, darunter Kamera-, Radar- und Ultraschallsensoren, LiDAR, Mikrofone sowie ein satellitengestütztes Positionierungssystem. Radar, LiDAR, und Kameras? Wo andere Hersteller sich klar für ein System entscheiden, setzt man bei Mercedes auf den Dreiklang. Die Rede ist hier vom „Best of aller drei Sensoren“. Im Fokus steht – das wird beim Event mehrfach betont – die Sicherheit.
Ergänzt werden die Sensordaten mit Informationen zu Straßengeometrie, Streckeneigenschaften, Verkehrszeichen und besonderen Ereignissen, wie Baustellen oder Unfällen, die eine HD-Karte liefert. Diese wird über eine Anbindung an Mercedes-Rechenzentren zur Verfügung gestellt und laufend aktualisiert – mit einer „Genauigkeit im Zentimeterbereich“, wie es heißt. Jedes Fahrzeug gleicht also den lokalen Datensatz permanent mit diesen Informationen ab und aktualisiert seine lokalen Daten gegebenenfalls.
Aber: Das Drive Pilot System erfordert auch weiterhin bestimmte Voraussetzungen, wie ein vorausfahrendes Fahrzeug, mindestens zwei Fahrspuren, gutes Wetter und Tageslicht. In Tunneln oder Baustellen wird die Funktion automatisch deaktiviert. Ist das System aktiviert, übernimmt das Fahrzeug die Verantwortung und der Fahrer kann sich anderen Tätigkeiten widmen. Im Stadtverkehr stehen weiterhin die Level-2-Funktionen des Fahrzeugs zur Verfügung, wie Abstandsregeltempomat und Lenkassistent.
Redundante Systemarchitektur
Soweit die Theorie. Doch was ist, wenn Störungen – einfache oder schwerwiegendere – auftreten? Die Mercedes S-Klasse und der EQS mit Drive Pilot verfügen – wie oben erwähnt – über eine redundante Sensorauslegung, um physikalische bedingte Nachteile gegenseitig auszugleichen. Zudem sind besonders wichtige Systeme wie die Lenkung, Bremsen und das Bordnetz redundant ausgelegt. So soll gewährleistet werden, dass das Fahrzeug auch beim Ausfall in einem dieser Systeme manövrierfähig bleibt.
Ab auf die Straße
Nun zur Praxis: Bei 90 km/h auf die Berliner Stadtautobahn die Hände vom Lenkrad lassen – irgendwie keine so beruhigende Aussicht … eigentlich. Schnell zeigt sich aber: Setzt man sich auf der rechten Spur hinter einen Lkw und aktiviert den Drive Pilot – entweder auf Vorschlag des Systems oder auf Eigeninitiative – geht es auch auf einer der meist befahrenen Straßen der Bundesrepublik ziemlich entspannt zu. Wir kommen zügig voran und das absolut stressfrei. Beruhigend!
Die Bedienung des Drive Pilot funktioniert dabei über das Lenkrad. Links und rechts oberhalb der Daumenmulden sitzen die entsprechenden Bedienelemente. Ein weißes Licht an diesen Tasten und ein Symbol im Kombi-Instrument signalisieren: Drive Pilot ist verfügbar. Wird eine dieser beiden Tasten gedrückt, ist das System aktiviert. Die Anzeige leuchtet dann Türkis. Nun ist es dem Fahrer erlaubt, die Hände vom Lenkrad zu nehmen und sich anderen Tätigkeiten zu widmen. Welche Nebentätigkeiten gesetzlich zulässig sind, hängt von den jeweiligen nationalen Straßenverkehrsvorschriften ab.
Was tun mit der gewonnenen Zeit? Mails beantworten oder eine Folge der Lieblingsserie anschauen. Wir haben uns über den YouTube-Kanal von electrive mit den Neuigkeiten von der IAA Transportation versorgen lassen. Doch bei allem Entertainment muss der Fahrer übernahmebereit bleiben – ein Nickerchen ist also nicht erlaubt! Auch den Fahrersitz darf er nicht verlassen. Eine Kamera überwacht das auch entsprechend.
In Baustellen, bei herannahenden Rettungsfahrzeugen oder dem nahenden Ende einer freigegebenen Strecke fordert der Drive Pilot den Fahrer auf, das Steuer wieder zu übernehmen. Zwei Szenarien haben wir auf unserer Fahrt erlebt: zwei Baustellen – sowohl fest als auch mobil – und als an der Ausfahrt Hüttenweg die rechte Fahrspur von der Autobahn abgeht, wo sie in den Berliner Grunewald führt.
Wie kommuniziert das Fahrzeug mit dem Fahrer?
Auf drei Ebenen – akustisch, optisch und physisch: Soll der Fahrer die Fahraufgabe vom Drive Pilot wieder übernehmen, ertönt ein akustisches Signal. Außerdem wechselt das Licht am Lenkrad von Türkis über Gelb auf Rot. Zusätzlich gibt es noch einen Ruck am Gurt. Und auch die anderen Verkehrsteilnehmer werden informiert: Über Marker Lights in Türkis soll der automatisierte Fahrmodus von außen erkennbar sein. Die Markierungslichter für automatisiertes Fahren sind in die Front- und Heckleuchten sowie in die beiden Außenspiegel integriert. Türkis erfüllt hierbei zwei Kriterien, die maßgeblich zu dieser Farbwahl beigetragen haben: Zum einen sorgt die gute Sichtbarkeit für eine schnelle und verlässliche Erkennung durch andere Verkehrsteilnehmer. Zum anderen hebt sich Türkis klar von bereits bestehenden Fahrzeugbeleuchtungen sowie Verkehrssignalen wie Ampeln oder Notbeleuchtungen ab.
Eine Ausnahmegenehmigung für diese speziellen Markierungslichter für automatisiertes Fahren hat Mercedes bereits in den US-Bundesstaaten Kalifornien und Nevada erhalten. Die Ausnahmegenehmigung für Entwicklungsfahrzeuge in Kalifornien gilt zunächst für zwei Jahre. In Nevada hingegen ist der Einsatz in Serienfahrzeugen ab dem Modelljahr 2026 erlaubt, und die Genehmigung bleibt unbefristet gültig, bis die gesetzlichen Rahmenbedingungen den regulären Betrieb ermöglichen. Für Deutschland läuft die Prüfung zur Freigabe durch das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA).
Der Blick nach China
Wie man dem Entwicklungstempo entgegentreten will, das China vorlegt? Mercedes gibt sich auf diese Nachfrage hin entspannt und optimistisch. Man teste, entwickle selbst in China und habe einen globalen Anspruch, so Dr. Martin Hart, Director Drive Assistance Systems & Active Safety bei Mercedes-Benz. Die eigene Entwicklungsgeschwindigkeit bewerten die Stuttgarter als hoch. Aber sicher soll es sein – das betonen alle Entwickler, mit denen wir gesprochen haben, unisono. Die „Feldabsicherung hat hier einen hohen Stellenwert.“
Apropos: Wie sieht es rechtlich aus, wenn doch mal etwas passiert? Verursacht das System einen Unfall, haftet der Hersteller – vorausgesetzt natürlich, der Fahrer hat nicht gegen die StVO verstoßen, indem er beispielsweise betrunken war oder keinen Führerschein besitzt. Über die vom Fahrzeug gespeicherten Daten lässt sich im Nachhinein nachvollziehen, wann und in welchen Situationen der DRIVE PILOT aktiviert war und wann der Fahrer selbst gefahren ist.
Abschluss-Challenge: Parken
Oder besser gesagt: Parken lassen! Wir fahren zunächst in einem Fahrzeug mit rundherum komplett abgedunkelten Scheiben einen kleinen Parcours auf dem Parkdeck – nur nach dem Bild, das die vier Fish Eye Kameras liefern. Fühlt sich etwas komisch an, so ganz ohne Blick nach draußen und mit dem Wissen, dass es vom Parkdeck einige Meter nach unten geht. Zum Einparken lassen wir den Park-Assistenten übernehmen. Auch für den Rückweg durch den Parcours zum Ausgangspunkt übernimmt die Technik. Und die funktioniert problemlos.
Dann steigen wir noch mal um und haben wieder freie Sicht nach draußen. Wir lassen auch hier der Technik den Vortritt beim Einparken: vorwärts, rückwärts, parallel zum Bordstein – alles kein Problem für den Assistenten. Zugegeben: Die Parklücken sind für Berliner Verhältnisse teilweise geradezu üppig bemessen, aber sei‘s drum. Im engen Prenzlauer Berg wäre das Einparken vermutlich auch für den Park-Assistenten eine größere Herausforderung. Schön: Den Fahrradfahrer, der unseren Weg beim Rückwärtsausparken kreuzt, erkennen die Kameras – und der Mercedes bremst sofort auf Null herunter. Unfall vermieden!
Fazit
Wir haben in Berlin zuverlässig funktionierende Software erlebt. Das heißt: Das automatisierte Fahren kommt voran! Auch wenn es deutlich länger dauert, als vor ein paar Jahren suggeriert wurde. Standardisierung ist das nächste Thema. Hier setzt sich Mercedes etwa dafür ein, dass die türkisfarbenen Außenlichter überall auf der Welt einheitlich anzeigen, dass hier ein Auto steuert – und kein Mensch. Wichtig!
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