EU-Energiesystem: Fraunhofer ermittelt ökonomisches Potenzial von Bidi-Laden
Das Hauptaugenmerk der Studie liegt auf den ökonomischen Potenzialen, die Elektroautos als Speicher für das Stromnetz haben. Bekanntlich stehen Autos die meiste Zeit des Tages und könnten mit ihren Akkus netzdienlich Energie aufnehmen sowie rückspeisen – und so als Regelreserve dienen. Die Fraunhofer-Institute ISI und ISE haben nun im Auftrag der Organisation Transport & Environment die Potenziale des Vehicle-to-Grid -(V2G)-Ansatzes untersucht.
Bis 2040 könnte die flächendeckende Einführung bidirektionaler Ladesysteme den Wissenschaftlern zufolge die jährlichen Energiesystemkosten in der Europäischen Union um 8,6 Prozent senken, was einer jährlichen Einsparung von 22,2 Milliarden Euro entsprechen soll. Und: „Durch die Speicherung überschüssiger erneuerbarer Energie, die sonst verloren ginge, könnte die europäische Elektrofahrzeug-Flotte bis 2040 bis zu neun Prozent des jährlichen Strombedarfs der EU decken“, heißt es in der Studie weiter. Damit wären Elektrofahrzeuge sozusagen der viertgrößte Stromlieferant in der EU. Während Spitzenlastzeiten könnten Elektrofahrzeuge den Fraunhofer-Forschern zufolge theoretisch schon heute 15 bis 20 Prozent des momentanen Strombedarfs decken.
Elektrofahrzeuge, die mit einer bidirektionalen Lademöglichkeit ausgestattet sind, könnten wie „Batterien auf Rädern“ fungieren, die in Zeiten eines Überangebots Strom aufnehmen und bei höherer Nachfrage wieder abgeben, erläutern die Studienmacher. Was technisch bereits machbar ist, scheitert aktuell in Deutschland jedoch noch am regulatorischen Rahmen. Nachbarländer wie Frankreich oder Großbritannien sind da wie berichtet schon weiter.
Die genannten jährlichen Einsparungen durch flächendeckendes V2G könnten sich der Studie nach EU-weit zwischen 2030 und 2040 auf mehr als 100 Milliarden Euro summieren. Diese massiven potenziellen Kostensenkungen seien darauf zurückzuführen, dass bidirektional ladende Elektrofahrzeuge dazu beitragen, die Energiewende mit immer mehr Strom aus erneuerbaren Energiequellen zu erleichtern, so die Analysten. „Dies gilt insbesondere für Sonnenenergie. So kann der Bedarf an stationären Batteriespeichern in der EU bis 2040 um bis zu 92 Prozent reduziert werden.“ Und EU-weit könne die installierte PV-Leistung durch V2G um 40 Prozent steigen.
Kim Kohlmeyer von Transport & Environment betont: „Elektrofahrzeuge dekarbonisieren den Straßenverkehr, aber sie haben noch weitere Vorteile für unsere Wirtschaft und unser Energiesystem, die es zu realisieren gilt. Das bidirektionale Laden wird uns kostenlos Batterien auf Rädern zur Verfügung stellen. Das reduziert auch den Druck, Energiespeicher für überschüssigen Wind- und Solarstrom zu bauen.”
Das soll sich gesamtgesellschaftlich, aber auch für jeden Einzelnen lohnen: Da Elektrofahrzeuge überschüssigen, günstigen Strom oder Solarenergie von zu Hause beziehen können, könnten deutsche Elektrofahrzeug-Besitzer durch bidirektionales Laden bis zu 45 Prozent ihrer jährlichen Stromrechnung einsparen, so die Studie. Das entspreche einer Ersparnis von bis zu 727 Euro pro Jahr, abhängig von Faktoren wie dem Standort des Fahrzeugs, der Größe der Fahrzeugbatterie und der Frage, ob das Haus über eine Solaranlage verfügt oder nicht. Bidirektionale Heimladesäulen werden den Fraunhofer-Wissenschaftlern nach dabei „langfristig lediglich 100 Euro mehr als konventionelle Wallboxen kosten“.
Auch zur Haltbarkeit der Batterien präsentiert die Studie ein Prognose: „Bidirektionales Laden kann auch die Lebensdauer von Elektrofahrzeug-Batterien verlängern – entgegen der weit verbreiteten Befürchtung, dass die Zellen durch regelmäßiges Laden und Entladen geschädigt werden.“ Den Analysten zufolge könnte die Lebensdauer der Batterien um bis zu 9 Prozent länger sein als bei herkömmlichem Ladeverhalten, da das Fahrzeug in einem optimalen Ladezustand gehalten werde.
Das Resümee: Europa und Deutschland könnten von den Vorteilen der V2G-Technologie fast kostenlos profitieren, da die Kosten für bidirektionale Onboard-Ladegeräte und Wallboxen innerhalb weniger Monate durch niedrigere Stromrechnungen ausgeglichen werden würden. Dafür ist den Initiatoren der Studie zufolge jedoch eine abgestimmte und zukunftsgerichtete Ausgestaltung des gesetzlichen Rahmens notwendig. Als problematisch bezeichnet Transport & Environment etwa, dass die Automobilindustrie derzeit auf verschiedene technische Ansätze setzt, was die Interoperabilität langfristig erheblich erschweren könnte.
„V2G kann sich nur durchsetzen, wenn die Rahmenbedingungen es erlauben. Der Gesetzgeber kann das Potenzial dieser Technologie freisetzen, indem er nun schnell Umsetzungshürden für bidirektionales Laden abbaut“, so Kim Kohlmeyer. Die von Wirtschaftsminister Robert Habeck initiierte und kürzlich erfolgreich abgeschlossene „Coalition of the Willing“ sei dafür ein erster wichtiger Schritt. Nun müsse es jedoch um die schnelle Umsetzung gehen. Habeck hatte vor einer Woche bekanntlich zum zweiten „Europäischen Gipfel für bidirektionales Laden“ eingeladen.
Die Voraussetzungen für V2G unterscheiden sich in den EU-Staaten teils gravierend. In Deutschland gibt es etwa ein dezentral verwaltetes Stromnetz mit über 900 Netzbetreibern, was die Umsetzung innovativer Technologien natürlich erschwert. In Ländern wie Frankreich und Großbritannien ist die Anzahl der Betreiber dagegen einstellig. Außerdem müssen in Deutschland noch regulatorische Hürden abgebaut werden – insbesondere die doppelten Netzentgelte. Eine weitere Baustelle: der schleppende Smart-Meter-Rollout, der in anderen Ländern eine ganz andere Dynamik entfaltet.
spiegel.de, transportenvironment.org, transportenvironment.org (Pressemitteilung)
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